Geschichten

Jeder Tag voll Leben

Seit 2004 begleiten wir in der Domicilium Hospiz-Gemeinschaft Menschen auf ihrem letzten Weg — palliativmedizinisch, pflegerisch und spirituell. Blicken wir auf die Geschichte dieser Gemeinschaft, so war jeder Tag erfüllt von intensiven Begegnungen, die uns immer wieder zeigten, wie kostbar das Leben ist. In Geschichten haben wir diese Erfahrungen zusammengetragen. Sie sind ein Zeugnis davon, wie wichtig es ist, füreinander da zu sein und den Wert jedes einzelnen Tages zu erkennen.

Helena Snela
Gründerin des Domicilium

Wie das Domicilium entstand

Die Geschichte des Domicilium ist wie ein Märchen. Es waren einmal zwei „Verrückte“, die suchten nach weiteren „Verrückten“, die etwas Sinnvolles bewirken wollen – und sie kamen! Mit ihrem Mut und Pioniergeist fanden diese Menschen ihr Glück.

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Mein Mann Bogdan und ich waren schon immer offen für die sozialen Probleme der Menschen. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben. Ich hatte in Polen Psychologie studiert und später ein SOS-Kinderdorf mit aufgebaut. Bogdan war katholischer Theologe und arbeitete an der katholischen Universität in Lublin, wo wir uns 1974 kennenlernten. Er bekam ein Humboldt-Stipendium in Deutschland, ich ein internationales Stipendium der SOS-Kinderdörfer in Österreich.

Die Geschichte des Domicilium beginnt, als wir beide in Deutschland waren und die Entscheidung getroffen hatten, eine Familie zu gründen. Nach unserer kirchlichen Trauung war klar, dass Bogdan seinen Beruf als Priester nicht mehr ausüben konnte. So beschlossen wir, in Deutschland zu bleiben.

Es war keine leichte Zeit, da Bogdan die Arbeit für die Kirche verwehrt war. Zu unserem Glück bekam er nach einem Jahr Arbeitslosigkeit eine Anstellung als Lektor im Kösel-Verlag. Wir lebten mit unseren drei Kindern in München, als wir im Rahmen eines Jugendamt-Projekts gefragt wurden, ob wir offen für Pflegekinder wären. Wir sagten zu, und so erweiterte sich unsere Familie um drei Kinder und unser gemeinsamer Horizont um ihre verschiedenen Hintergründe, die uns für die Realität des Angewiesenseins sensibilisierten.

Es war nicht immer leicht in dieser Familienkonstellation. Als Mutter von sechs Kindern kam ich zeitweise an meine Grenzen. Im Rahmen seiner Verlagstätigkeiten lektorierte Bogdan das Buch von Pater Hugo Enomiya-Lassalle „Mein Weg zum Zen“ und meditierte darüber hinaus mit ihm. Pater Lassalle war Jesuit und lebte in Japan, wo er den Zen-Buddhismus kennenlernte. Nachdem er Zen-Meister wurde, machte er Zen auch den Menschen in Europa zugänglich. Als Bogdan erzählte, dass Zen-Meditation in Stille geschieht, war ich fasziniert – endlich Stille, sieben Tage Schweigen, ohne Lärm um mich herum. Ich verspürte Sehnsucht nach Stille und fuhr gespannt nach Dietfurt ins Meditationshaus St. Franziskus. Dort nahm ich an meinem ersten Sesshin bei Pater Lassalle teil.

Sesshin bedeutet „Sammeln des Herzgeistes“ – und genau das erfuhr ich beim Meditieren. Ich durfte Erfahrungen machen, die mich neu orientiert haben. Ich habe Liebe in mir empfunden, konnte plötzlich die Eltern meiner Pflegekinder verstehen. Es war für mein Leben ein neuer Start. Und dieser Neustart war größer, viel größer, als ich zunächst vermutet hatte. Diese kraftgebende spirituelle Erfahrung trägt mich bis heute.

Für Bogdan und mich war das Kennenlernen von Zen ein derart starkes Erlebnis, dass wir beschlossen, einen Raum zu schaffen, an dem sich Interessierte zur Zen-Meditation treffen können. Wir riefen 1986 den gemeinnützigen Verein Domicilium zur Integration sozial Verwaister ins Leben. Die Vereinsgründung ging aus dem Kontakt und Austausch mit anderen Pflege- und Adoptiveltern auf der gemeinsamen Suche nach einer Kraftquelle hervor. Seit dieser Zeit ist die Verbindung von Meditation und sozialem Engagement das Herzstück des Vereins.

Damit andere Menschen ebensolche wertvollen Erfahrungen in der Meditation machen können, wollten wir der Arbeit des Vereins einen Ort geben. Von der Frage nach Geld, Mitstreitern und fehlendem Können wollten wir uns nicht abbringen lassen. Die Bank gewährte uns einen Kredit, Bekannte gaben zinslose Darlehen, sodass wir 1986 das Leitenkistler Anwesen in Weyarn, einen fast 400 Jahre alten Bauernhof, erwerben und dort ein Meditationshaus gründen konnten. Verwandte und befreundete Künstler kamen und halfen bei Handwerksarbeiten. Stück für Stück entstand mit viel Engagement und Unterstützung das Domicilium am Hochufer der Mangfall.

In dieser Pionierphase wurde das Domicilium zu einem Treffpunkt, in dem suchende Menschen unabhängig von Glauben, Weltanschauung und Herkunft eine Unterstützung und Heimat finden konnten. Viele Menschen, die zur Meditation in das Haus kamen, identifizierten sich mit den Zielen des Vereins und wurden Mitglieder. Wir organisierten Meditationstreffen mit Meditationslehrern aus verschiedenen Kulturen und Konfessionen, veranstalteten Konzerte und Feste für Familien mit leiblichen Kindern, Adoptiv- und Pflegekindern und initiierten Spendenaktionen für kastenlose Kinder in Indien.

Immer wieder meditierten bei uns im Haus auch kranke Gäste. Eines Tages kam ein Mann mit fortgeschrittener Krebserkrankung in das Meditationshaus. In seiner Verzweiflung wollte er in der Meditation neue Kraft und Zuversicht gewinnen. Beeindruckt von der Schönheit der Landschaft und der familiären Atmosphäre im Haus entstand in ihm ein Wunsch. Er kam auf uns zu und sagte: „Ich habe das erste Mal in meinem Leben so einen tiefen Frieden gefunden. Hier möchte ich bleiben und hier möchte ich sterben.“ Es war wie ein Ruf aus der Zukunft.

Natürlich hatten wir beide zunächst Angst vor dem, was auf uns zukommen würde. Eigentlich wollten wir, nachdem die Kinder groß waren, die wiedergewonnene Freiheit genießen. Aber dann wurde uns klar: Wenn wir unsere Spiritualität ernst nehmen, dann können wir den Kranken nicht abweisen. Wir ließen uns auf das ein, was plötzlich, unerwartet und doch als klare Aufgabe in unser Leben hereinbrach. Gemeinsam mit dem Betroffenen bauten wir neben dem Meditationshaus eine kleine Holzhütte mit Kochnische und Bad. Der Kranke verbrachte die letzten sechs Monate seines Lebens im Domicilium und ging hier sehr bewusst seinen letzten Weg: Er zimmerte selbst das Bett, in dem er später verstarb, bereitete die Kleider und Musik für seine Verabschiedung vor.

Die Realisierung dieses letzten Wunsches, im Domicilium bis zum Tod leben zu können, war möglich durch die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten und einem ortsansässigen Pflegedienst. Mit dem Schwinden der Kräfte des Mannes übernahmen wir die Organisation der körperlichen und medizinischen Pflege. Und wir setzten uns in einem partnerschaftlichen Miteinander mit den Sorgen, Ängsten und spirituellen Fragen des Kranken auseinander.

Die Begleitung dieses Menschen war die höchste spirituelle Erfahrung, die ich je in meinem Leben machte. Diese Erfahrung des bewussten, friedlichen Sterbens war so gewaltig, dass wir beschlossen, auch anderen diese Möglichkeit zu geben. Es war dieser krebskranke Mann, der den Grundstein für die Hospiz-Gemeinschaft legte. Nach seinem Tod gab es weitere Anfragen von erkrankten Menschen, die im Domicilium leben und sterben wollten. Cicely Saunders, die Gründerin der Hospizbewegung hat uns darin bestätigt, wie wichtig Spiritualität am Ende des Lebens ist. So war „Spiritual Care“ von Anfang an für uns zentral. Eine Idee war geboren und plötzlich kam von allen Seiten Hilfe.

In der Süddeutschen Zeitung erschien ein Interview mit Bogdan über das Vorhaben der Gründung einer Hospiz-Gemeinschaft. Es meldeten sich mehrere Personen, durch die die Idee Wirklichkeit wurde: Dr. Michael von Block von der Dr. Peter Bonner Stiftung, Dr. Christa Vossius vom Christophorus-Hospiz in Bad Tölz und Gertraud Gruber von der Gertraud und Josef Gruber Stiftung. Die Gruber Stiftung entschloss sich, auf unserem Grundstück ein Haus für die Hospiz-Gemeinschaft auf Erbbaurecht zu errichten. Am 12. August 2004 wurden die ersten Gäste aufgenommen. Unter dem Dach des Vereins Domicilium bildete sich die Hospiz-Gemeinschaft, die sich bis heute mit einem großen Team aus haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden fürsorglich für Kranke, Sterbende und Trauernde einsetzt. Bis zu acht Schwerkranke und Sterbende werden hier betreut.

2001 gründete der Verein die Palliativ-Spirituelle Akademie unter der Leitung von Prof. Dr. Michael von Brück. Hier sollte das Fachwissen erworben werden, um Kranke und Sterbende medizinisch, pflegerisch, sozial und spirituell kompetent und professionell begleiten zu können. Seitdem werden in den Räumen des Meditations- und Seminarhauses ehrenamtliche Hospizhelferinnen und -helfer ausgebildet. Seit 2017 bietet die Akademie eine wissenschaftlich fundierte Fortbildung zu Palliative Care und Spiritual Care für Fachkräfte an. Ein Schwerpunkt ist die persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit: „ars vivendi – ars moriendi“. Eine Besonderheit ist, dass die Kurse multiprofessionell ausgerichtet sind, sodass unterschiedliche Berufsgruppen vom gemeinsamen Lernen und vom Austausch profitieren können. Die Kurse sind durch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin zertifiziert. Zudem werden jährlich Benefiz-Symposien zugunsten der Hospiz-Gemeinschaft organisiert. Das Ziel ist es, in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Themen Krankheit, Leid, Verlust und Tod zu wecken.

Seit fast vier Jahrzehnten ist nun der gemeinnützige Verein Domicilium tätig – ursprünglich als Verein zur Integration sozial Verwaister, dann erweitert um die Hospizarbeit, heute als Stiftung Domicilium e. V. Durch die direkte Nachbarschaft des Meditations- und Seminarhauses mit der Hospiz-Gemeinschaft ist eine bereichernde Symbiose für unsere Arbeit entstanden. 2024 feiert die Hospiz-Gemeinschaft nun ihr 20-jähriges Jubiläum.

Alles hat sich ergeben, Schritt für Schritt. Ohne die Pflegekinder wären wir nicht zur Meditation gekommen, ohne diese Erfahrung hätten wir nicht ein Meditationshaus aufgebaut und ohne das Meditationshaus stünde kein Hospiz-Gebäude im Mangfalltal. Alles hat sich ergeben, dank glücklicher Ereignisse und hilfsbereiter Hände.

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Denis Bićanić
Kultursoziologe und Hospizhelfer

Heimgesungen

Das Singen begleitet die Menschen seit ihren Anfängen. Vielleicht war bereits die erste zwischenmenschliche Kommunikation vor Jahrtausenden eher gesungen als gesprochen. Wir werden als Neugeborene mit den sanften Stimmen unserer Eltern in den Schlaf begleitet. Wir singen zu Hochzeiten und Geburtstagen, zu Begräbnissen und an Todestagen. Das Singen verbindet und erfreut, bringt den Schmerz zum Ausdruck und tröstet.

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Seit einem Jahr arbeite ich in der Hospiz-Gemeinschaft als Helfer. Heute ist Dienstagnachmittag, die Zeit, in der wir gemeinsam singen. Unsere Ehrenamtliche Beatrix bringt wieder ihre große, edle Harfe, mit der sie unsere Gäste beim Singen begleitet. Thea lässt keinen Termin aus und ist schon an ihrem Platz, kann kaum warten, dass es losgeht. Monika hält auf der Couch den Raum und unterstützt uns, damit wir nicht aus dem Rhythmus fallen. Frau L. fängt schon zu singen an, während Beatrix noch die Harfe stimmt und Renate die Texte sortiert. Auch Marcela, vor ein paar Tagen eingezogen, ist gekommen.

Ich singe immer gerne mit, wenn es die Arbeit gerade erlaubt. Besonders bei den deutschen Versionen von „Halleluja“ und „Amazing Grace“ versuche ich dabei zu sein, denn ich kenne und mag diese Melodien. Wenn ich ihre Takte höre, flitze ich sogar vom ersten Stockwerk schnell herunter, um noch ein paar Zeilen zu erwischen. Bei „Zwei kleine Italiener“ und anderen Liedern, die ich von früher nicht kenne, ist es dagegen anders. Ich freue mich mitzuerleben, wie das Singen den Gästen guttut, sie in Freude versetzt und zum Lachen bringt. Die mir bislang unbekannten Lieder berühren mich jedoch nicht und erinnern mich daran, dass meine musikalische Prägung in einer anderen Muttersprache und geografisch woanders stattgefunden hat. Und wenn manchmal ein Lied aus meiner Jugend hochkommen möchte und in meinem Hals stecken bleibt, weil ich es hier zusammen mit anderen nicht singen kann, macht es mich ein bisschen wehmütig.

Vielleicht ist das der Grund, weswegen ich mir nicht sicher bin, ob unser singendes Zusammenkommen heute Marcela guttun wird. Marcela stammt aus dem Balkan, arbeitete aber lange in Finnland und spricht etwas Englisch, jedoch kein Deutsch. Nach ihrer Krankheitsdiagnose ist sie vor einem knappen Jahr zu ihrer Tochter nach Oberbayern gezogen und vor einigen Tagen zu uns gekommen.

Nachdem das Singen begonnen hat, werfe ich immer wieder einen Blick zu Marcela, die etwas hilflos die Texte vor sich hält, und bekomme den Eindruck, dass sie von Lied zu Lied trauriger wird. Und tatsächlich verlässt sie nach einigen Liedern den Gemeinschaftsraum und geht zurück in ihr Zimmer. Ein paar Minuten später gehe ich zu ihr. Sie sitzt an ihrem Tisch mit Tränen in den Augen. Obwohl ich auch aus dem Balkan stamme, sind unsere Muttersprachen leider nicht verwandt. Ich knie mich hin zu ihrem Stuhl und lege meine Hand auf ihren Arm. Sie legt ihre Hand auf meine und bedankt sich auf Englisch. Dann klingelt jemand von den Gästen, der nicht beim Singen ist, und ich lasse Marcela wieder allein.

Es ist ein klarer und sonniger Freitag im Februar auf dem Friedhof in der kleinen oberbayerischen Gemeinde, in der Marcela heute begraben wird. Ich bin etwas früher gekommen, noch ist kein Mensch zu sehen. Ich betrete die katholische Kirche, die bereits offen ist, und bekomme mit, wie der Sarg gerade auf das Podest vor dem Altar gestellt wird. Nachdem sie alles vorbereitet haben, verlassen der Bestatter und die Friedhofsangestellten die Kirche und ich bleibe allein zurück. Ich lasse das Ganze auf mich wirken. Die alten Bänke, die Bilder, die farbigen Fenster, Marcelas Sarg. Ich frage mich, ob sie hier einmal gewesen war. Es fühlt sich dann überraschend stimmig an.

Ich entscheide mich, noch einmal hinauszugehen und durch den Friedhof zu laufen. Ich gehe durch die Reihen der Gräber und schaue, ob ich irgendeinen ausländischen Namen von einer Person, die es hierher verschlagen hat, erkennen kann. Bald finde ich einen italienischen und nach einer Weile kehre ich wieder um. Zurück bei der Kirche, treffen gerade Marcelas schwangere Tochter, ihr Lebensgefährte und weitere Verwandte, die aus ihrer Heimat angereist sind, ein. Auch Carmen ist da, die Landsfrau von Marcela, die sie mehrere Male bei uns besucht hat. Wir sind nicht viele, mit dem orthodoxen Priester und seinem Assistenten sind wir zu zehnt in der Kirche. Es berührt mich, als ich sehe, dass die weiße Kerze unserer Hospiz-Gemeinschaft am Anfang der Zeremonie angezündet wird.

Der Priester und sein Begleiter beginnen abwechselnd zu singen. Lieder in Marcelas Muttersprache erfüllen langsam die alte Kirche. Ich verstehe kein Wort und bekomme trotzdem Gänsehaut. Ich erinnere mich an das Begräbnis meines Vaters, der vor drei Jahren verstorben ist, und spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Die zwei mächtigen Stimmen schlagen sanfte Klangwellen und ummanteln uns mit Ehrfurcht und Verbundenheit. Die Kirche wird zur Wiege mit Marcelas Sarg in der Mitte, gewiegt durch Trauer und Andacht.

Als wir nach einer Stunde aus der Kirche treten, um den Sarg, noch immer vom Gesang umhüllt, zum Grab zu begleiten, ist die Luft durch die Wintersonne noch einen Hauch wärmer geworden. Die Männerstimmen behaupten sich auch draußen und verlieren nicht an Kraft. Als Marcelas Sarg in der Erde verschwindet, verstummt auch der Gesang. Die Verkehrsgeräusche hinter der Friedhofsmauer scheinen nach wie vor weit entfernt zu sein. Die Stille, die sich jetzt im Voralpenland über uns legt, fühlt sich warm und heimisch an.

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Ulli Koch
Atemtherapeutin und Hospizhelferin

Im Atem lebendig

„Leben inmitten von Leben“, diese Worte von Albert Schweitzer kommen mir in den Sinn, wenn ich an meine ersten Begegnungen mit dem Domicilium denke. Dieses Leben war für mich während der Zen-Kurse, im Garten, am Weiher und oft in den Begegnungen mit den Menschen vor Ort wahrzunehmen. Ein Ort, an dem meine Seele wieder Kraft für den Alltag schöpfen konnte. In dieser Zeit hatte ich über mehrere Monate meine demente Mutter zu Hause zu betreuen, und das erforderte neben den beruflichen Verpflichtungen meinen ganzen Einsatz.

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Leben inmitten von Leben sollte sich dann in einer ganz neuen Dimension zeigen, als ich meine Mutter in die Domicilium Hospiz-Gemeinschaft bringen durfte. Sie wurde liegend transportiert, 93 Jahre alt, sie aß und trank kaum mehr, war eher tot als noch lebendig. Zunächst fiel es ihr schwer, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen, sie verweilte nur in ihrem Zimmer, aber die lebensbetonende, liebevolle und ganzheitliche Umsorgung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ließ sie wie Phönix aus der Asche auferstehen. Sie begann wieder zu essen und zu trinken. Ganz besonders genoss sie das Verweilen in der Hospizküche, ein Ort voller Leben. Sie freute sich auf ihr Marmeladenbrot und den Kaffee am Morgen, um dann in einem gemütlichen Lehnstuhl am Fenster mit Blick auf das Seminarhaus den Vormittag zu verbringen, mal schlafend, mal neugierig, was sich nebenan tat.

Eines Tages überraschte sie mich bei einem meiner Besuche, wie sie Plätzchenteig ausrollte oder ein Mandala ausmalte. Und, das war ihr besonders wichtig, sie stellte mir Herrn M. vor, ihren Tischnachbarn. Obwohl sie nicht mehr an den Tagesnachrichten interessiert war, wartete sie schon auf Herrn M. und bot ihm immer die Zeitung an, der dies auch umgekehrt tat. Diese gegenseitige Interaktion, das Fragen nach der jeweiligen Befindlichkeit hat mich sehr beeindruckt. Ich glaube, die beiden verliebten sich sogar ein wenig ineinander.

Besonders glücklich war meine Mutter, als alle ihre Enkelkinder zu ihrem 95. Geburtstag zu Besuch kamen. Am Abend fragte sie Herrn M.: „Haben Sie gesehen, wie glücklich ich heute war? Ich bin nicht traurig, dass alle wieder fort sind, denn sie kommen ja wieder.“ Herr M. bestätigte dies mit einem klaren „Ja.“ Wichtig wurde ihr ein Abendritual, das ihr viel Geborgenheit schenkte: Eine Mitarbeiterin bezeichnete sie mit dem Kreuz und beide sangen „Guten Abend, gute Nacht …“, die Englein um ihr Bett verliehen ihr Halt, Geborgenheit und Schutz.

Ich durfte meine Mutter bis zu ihrem letzten Atemzug begleiten, still an ihrem Bett sitzen, ihre Hand halten, kühlende Umschläge auf ihre Stirn legen und ihr ein Lied summen, begleitet von sehr einfühlsamen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ihre Wertschätzung für meine Mutter ist mir bis heute überaus wichtig. Dankbarkeit prägte die folgende Zeit, Dankbarkeit für das, was wir, meine Mutter und ich als Tochter, hier im Domicilium für unser Leben und Sterben geschenkt bekommen haben. Ehrfurcht vor dem Leben am Ende eines Lebens. Ja zu dem zu sagen, was ist.

Aus diesem Grund engagiere ich mich seitdem ehrenamtlich in der Hospiz-Gemeinschaft und begleite schwerkranke und sterbende Menschen als Atemtherapeutin. Bei meiner palliativen Arbeit geht es weniger um eine Technik oder ein Erreichenwollen einer Besserung. Vielmehr geht es um eine ganzheitliche Behandlungsweise, die den Prozess des Loslassens am Ende eines Lebens unterstützt.

Es ist Donnerstagmorgen. Von den diensthabenden Hauptamtlichen wurde mir ein neuer Gast ans Herz gelegt, der mit fortgeschrittener ALS zu uns ins Hospiz verlegt wurde. ALS bedeutet Amyotrophe Lateralsklerose und ist eine schwere neurologische Erkrankung, die zu fortschreitenden Muskellähmungen und Spastizität führt. Frau S. wird künstlich ernährt, kann nicht mehr schlucken oder sprechen und erhält permanent Sauerstoff. Darüber hinaus leidet sie an erhöhtem Speichelfluss. Ihr linker Arm ist gelähmt.

Frau S. sitzt in ihrem Lehnstuhl, einen Sprachcomputer auf ihrem Schoß, ein durchfeuchtetes, zerknülltes Taschentuch in ihrer linken Hand, einen Waschlappen unter ihrem Kinn für den permanenten Speichelfluss, das Radio läuft. Eine schicke, gepflegte ältere Dame mit wachem Blick. Ich stelle mich ihr vor, setze mich neben sie auf einen Stuhl und sie beginnt eifrig in ihren Computer zu schreiben. Ich ertappe mich, wie es mich drängt, vorschnell das Geschriebene zu lesen, aber sie lehrt mich Geduld, bis ihr Computer es laut ins Wort bringt: Sie freue sich auf unsere gemeinsame Arbeit, kann sich aber unter Atemtherapie nichts vorstellen.

So lade ich sie ein, ihre Füße wahrzunehmen und auf ihren Atem zu achten, wie er kommt, wie er geht, und frage sie, ob ich meine Hand sanft auf ihre Schulter legen darf. Sie bestätigt durch ein Nicken. So lauschen wir ihren Atemzügen, still, nur unterbrochen vom Blubbern des Sauerstoffgerätes. Ich nehme ihre Anspannung im Schulter-Nackenbereich wahr, es kostet sie Mühe zu atmen. So frage ich weiter, ob ich meine andere Hand über ihre Nabelmitte legen darf. Ihr Zwerchfell ist angespannt und hart. Hinzu kommt, dass der zähe Schleim in der Lunge nicht mehr abgehustet werden kann, was angstmachend ist. Mit sanftem Druck auf ihren Bauch beim Ausatmen und Lösen meiner Hand beim Einatmen hilft ihr die Unterstützung, sodass sich die Zwerchfellmuskulatur etwas lockert, wieder mehr ins Schwingen kommt, ihr Atem sich verbreiten kann und nicht nur den oberen Lungenraum erreicht.

Sanft streiche ich ihr die Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen aus und lege meine Hand unter ihren Hinterkopf. Dieser schmiegt sich sogleich in meine Hand, ihre angestrengte Halsmuskulatur entspannt sich etwas. Frau S. atmet jetzt ruhiger, ihre Gesichtszüge entspannen sich. Ich streiche ihr Arme und Beine aus und bitte sie, ganz bewusst nochmals ihre Fußsohlen wahrzunehmen. Jetzt lächelt sie und schreibt zum Abschied in ihren Computer: „Danke, danke, bis nächste Woche, ich freue mich schon auf Ihre warmen Hände und Ihr Kommen.“

Was ist geschehen? Wie ist eine solche Wandlung bei der unheilbar Kranken möglich? Der Atem – nicht die Atmung als physiologischer Vorgang – ist das Band, das mich in der Sterbebegleitung mit dem Menschen verbindet, der vor mir liegt, der atmet, für mich weder krank noch sterbend ist: ein Mensch, der lebt wie ich und der atmet wie ich, genau jetzt in diesem einzigartigen Moment. Der Atem verbindet uns. Jeden in seiner ganz eigenen Bedingtheit. Der Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini benannte dies als „das schwingende Band zwischen Körper, Seele und Geist“, zwischen dem Du und meinem Ich, zwischen seiner und meiner Verfasstheit, jetzt in diesem Moment.

Atem ist immer da, egal ob der Mensch unter Atemnot leidet, aufgeregt oder angestrengt ist, von Übelkeit gequält wird, voll Leid, Schmerz und Angst erfüllt ist oder vor Freude jauchzt. Wenn es in einer Behandlung gelingt, den Klienten zu sich selbst im Lauschen auf den Atem einzuladen, und er die Wellenbewegung des Atems von Kommen und Gehen zulassen kann, dann wird der Atem zum besten Begleiter, der uns geschenkt wird. Er ist dann kraftvoller, geheimnisvoller, heiliger Hauch: spiritus, pneuma, odem. Aus der aufmerksamen Beobachtung des Atems heraus entwickelt sich eine Kraft zum Leben und zum Sterben.

Je stiller diese Begegnungen werden, um so tiefer werden sie. Sie führen uns in einen sehr persönlichen und zugleich spirituellen Raum, zu unserer Seele, die in diesem fließenden einen Atemzug sich wahrhaftig zeigt, lebendig ist und im nächsten Atemzug sich vielleicht wieder verflüchtigt. So entfaltet der Atem seine Wirkkraft, wenn nichts erreicht werden will, in der Absichtslosigkeit, sowohl seitens des Klienten als auch seitens des Therapeuten, wie bei Frau S.

Über viele Wochen in der atemtherapeutischen Begleitung sind Frau S. und ich gute Freundinnen geworden. Sehr klar und wahrhaftig hat sie ihre Krankheit und auch ihr Sterben angenommen. Sie wusste in der Erfahrung ihres Atems, dass es neben der unsäglichen Krankheit auch ein Wohlgefühl, eine Leichtigkeit und Freude gibt. Sie durfte sich nicht nur
als schwach und hilfsbedürftig erfahren, sondern im Atem lebendig und heil.

Bei unserer letzten Begegnung ahnte sie wohl, dass ihr Lebensende naht. Sie konnte ihren Sprachcomputer nicht mehr bedienen und kämpfte mit den immer mehr sich verengenden Atemwegen. Dies machte ihr Angst, Angst zu ersticken. Beim Abschied ergriff sie meine rechte Hand und legte sie auf ihr Herz. Welch großartige Frau!

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Anja Kern
Pflegefachkraft

Ja mir san mim Radl da
Eine verrückte Idee? Oder ein buntes Märchen?

Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin Namens Monika.
Tag ein Tag aus saß sie auf der „Küchencouch“ im Zauberschloss. Von Weitem hörte man schon über das Land hinaus das Klappern ihrer Stricknadeln. Klick – Klack – Klick – Klack.

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Als sie eines Tages wieder in Gedanken verloren ihre Stricknadeln in die Hand nahm, erschien ihr plötzlich ein Zwerg. Er stellte der Prinzessin die Frage nach den SINN IN IHREM LEBEN! Erschrocken antwortete sie: „Was für einen Sinn?“ Ich werde sterben! Prinzessin Monika wartete auf den Tod und hatte nicht mit einem Zwerg gerechnet.

Schon kam die nächste Frage vom Zwerg. Was wirst du hinterlassen, wenn du gehst? Sofort antwortete die Prinzessin spontan unter Tränen: „Zwei bezaubernde Töchter“. Meine geliebte Ines & meine geliebte Cynthia.

Da sprach der Zwerg, wie wäre es, wenn du deiner Langeweile und deinem Warten etwas Farbe gibst? Sofort war die Prinzessin offen und sehr angetan von diesem Vorschlag. Die beiden einigten sich auf ein Strickprojekt. So begann der Lauf der Zeit.

Nur was soll gestrickt werden, überlegten beide gemeinsam. Vielleicht einen Baum im Garten bestricken? Entsetzt schrie die Prinzessin auf: „NEIN!!! Lebewesen bestrick ich nicht – der Baum bekommt sonst keine Luft mehr.“ Spontan fiel die Auswahl auf ein Fahrrad. Der Zwerg bemühte sich sofort um ein Fahrrad und Wollreste. Dies gestaltete sich nicht schwer. Da alle Zwerge zusammen ein starkes WIR ergeben im Land der Zwerge.

Als die Prinzessin das Fahrrad und die Wollreste erblickte, begannen ihre Augen zu strahlen wie zwei Sterne. Sofort legte sie los und schmiedete Pläne. Was sie als erstes umstrickt, welche Farbe, welches Muster …?

Über Tage, Wochen, Monate hörte man schon von Weitem das Klappern der Stricknadeln aus dem Schloss. Bei schönem Wetter fand man die Prinzessin im wunderschönen Schlossgarten. Auf der Bank sitzend, die Füße an einen Baumstamm gelehnt, holte sie sich Lebenskraft und Freude. Mit Unterstützung ihrer Tochter Ines wurde das Fahrrad liebevoll dekoriert. Dabei gab die Prinzessin streng den Ton an, wo und wie es gestaltet wird. Schön war es anzusehen, wie die Prinzessin jeden Tag so viel Freude, Lachen und Heiterkeit im Schloss versprühte und alle mitreißen konnte. Wer dachte da schon ans Sterben? Dennoch war das Sterben ihr täglicher Begleiter.

Hin und wieder legte sie ihre Strickutensilien zur Seite, da sie immer wieder Besuch von der Müdigkeit, der Übelkeit, dem Schmerz und der Unruhe bekam. Da diese Besucher im Schloss jedoch nur von kurzer Dauer empfangen wurden, schöpfte sie immer wieder Kraft.

Ein ganzes Jahr lang verschönerte die Prinzessin liebevoll ihr Fahrrad. So bunt wie ihr Leben mit vielen kleinen Accessoires und liebevollen Details. Monika wurde geboren, um Humor und Freude in die Welt zu tragen. Sie ist nicht nur Gast im Schloss, sondern auch eine Lehrerin, eine weise Frau für alle Zwerge. Das Fahrrad war der Prinzessin sehr ans Herz gewachsen, es spiegelt ein Stück Prinzessin Monika wider, verrückt und bunt. So wie ihr Leben ist. Voller Kraft, Mut, Wille, Leben, Geduld, Gelassenheit, Vertrauen, Sicherheit, Freude, Humor, Trauer, Schmerz, Zuversicht, Offenheit, Wertschätzung, Angst, Respekt, Ehrfurcht, Würde, Achtsamkeit, Individualität, Empathie, Autonomie und jede Menge LIEBE.

Mit einem Lächeln im Gesicht sagt die Prinzessin:
„Und wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ich noch heute.“
„Und wenn ich gestorben bin, lebe ich in meinen Töchtern (Cynthia & Ines) weiter.“

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Dr. med. Andreas Weidmann
Medizinische Co-Leitung der Palliativ-Spirituellen Fortbildung

Woran ich mich erinnern werde

Wäre ich kürzlich in der Domicilium Hospiz-Gemeinschaft verstorben, was wären meine Erinnerungen an meine letzte Zeit? Der Blick zurück auf mein Leben, die Kindheit, Jugend, die erste und zweite Lebenshälfte, auf das Alter und das Sterben wird auf dieser Gemeinschaft an diesem Ort, auf meiner Zeit, die ich bis vor kurzem noch hier verbracht habe, ruhen. Ich werde mich an die vielen Menschen erinnern, die hier ein- und ausgehen, die hier mitten im Leben spirituell- und physisch-praktische Fürsorge für ihre Gäste tragen.

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Ich werde über die Vorbereitungen nachdenken, die ich getroffen habe, ehe und während ich Gast in der Gemeinschaft wurde. Ich werde der achtsamen Zuwendung nachspüren, die mir als Gast zuteilwurde, der vielen Gesten der Begleitung, der Linderung meiner Nöte, der tausend Angebote zum Aufleben zwischendurch, der steten Zeichen des Respekts, der Rücksichtnahme auf meinen Willen, meine Bedürfnisse, mein Dasein und mein Sosein.

Ich bin mir sicher, ich werde lächeln beim Gedanken an die Gespräche und Stimmen der Menschen, die Haus und Garten bevölkern. Ich werde mich erinnern an die stillen und intensiven Stunden in der Domicilium Akademie, die für die Herzensbildung der Menschen im Leben und Sterben so entscheidend ist. Die vielen Blumen werden mir einfallen, die Bäume, die sich um und über das Haus neigen, der Fluss, den man besonders nachts rauschen hört. Helena, wie sie stets überall und immer um uns und zwischen uns ist.

Ich werde mich erinnern, dass die Hospiz-Gemeinschaft stets auch den Menschen Platz lässt, die ihre Lieben, die im Hospiz zu Gast sind, besuchen und betreuen. Dass die Rituale und die Pfade der Trauer, die lange vor dem Tod mit vielfältigen Abschieden beginnt, begangen werden dürfen. Dass Schmerz und Verlust groß sein dürfen, aber nicht übermächtig sein müssen, weil die Spiritualität und die Zuwendung der Gemeinschaft dafür Sorge tragen, dass im Angesicht des Todes niemand verzweifelt.

Ich werde mich nach meinem Tod daran erinnern, dass die Hospiz-Gemeinschaft fröhliche und gute Erinnerungen im Sterben schafft, weil sie sich darauf versteht, das Leben mit all seiner Schönheit in die Herzen der Menschen zu holen. Es ist eine Gemeinschaft, die viele ausgestreckte Arme hat und viele Hände, die Angebote machen. Ein Angebot ist es, am Ende seines Lebens noch einmal eine Heimat, wenn nicht die eine Heimat zu finden, endgültig zur Ruhe zu kommen und nicht noch einmal aufbrechen zu müssen.

Ich werde mich an den wunderbaren Ort erinnern, der licht ist, ruhig und friedlich. Ich werde mich stets daran erinnern, wie sehr wir alle einen solchen Ort und eine solche Gemeinschaft im Leben und Sterben brauchen, und ich bin dankbar dafür, dass mich diese Erinnerung bereits mitten im Leben begleitet

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