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Achtsames Leben – Fernweh
von Richard Stiegler
30. Juni 2021
Manche Menschen fiebern das ganze Jahr auf den Urlaub hin und betrachten ihn als die Krönung eines modernen Lebens. Glaubt man den Versprechungen der Werbeprospekte, könnte man sowieso zu der Überzeugung gelangen, dass sich der Sinn des Lebens in einem immerwährenden Urlaubstrip an den Stränden südlicher Gefilde erfüllt. Vielleicht ist es auch kein Wunder, dass in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren der Sehnsuchtsort auf einer Liege am Meer unter der Sonne des Südens zu finden ist.
Fernweh?
Überall kann man beobachten, wie es derzeit alle Welt hinauszieht. Hinaus in die Natur, in die Biergärten, zu Kontakten mit Freund*innen, in die ersten kulturellen Veranstaltungen und vor allem hinaus in den heraufziehenden Sommer. Ist das ein Wunder? Nach dem langen Corona-Winter mit vielen Einschränkungen und der Reduktion auf das kleine häusliche Umfeld ist es nur natürlich, dass wir ein großes Bedürfnis verspüren, wegzufahren. Wir wollen endlich wieder raus aus den altvertrauten vier Wänden, neue, frische Luft schnuppern und die belebende Wirkung einer anderen Umgebung spüren. Fernweh liegt in der Luft und die Reiselust hat viele gepackt.
Urlaub als Verheißungsort
Wenn wir die Urlaubs- und Reisesehnsucht des modernen Menschen und die riesige Industrie der Reisebranche betrachten, ist das Fernweh offensichtlich eine wesentliche Sehnsucht des Menschen. Das Bedürfnis, dem gewohnten Umfeld und dem Tagwerk zeitweise zu entfliehen, gab es wohl schon immer, aber dass der Urlaub zum Verheißungsort unserer alltäglichen Mühen geworden ist, ist historisch wohl doch eher eine sehr junge Entwicklung.
Manche Menschen fiebern das ganze Jahr auf den Urlaub hin und betrachten ihn als die Krönung eines modernen Lebens. Glaubt man den Versprechungen der Werbeprospekte, könnte man sowieso zu der Überzeugung gelangen, dass sich der Sinn des Lebens in einem immerwährenden Urlaubstrip an den Stränden südlicher Gefilde erfüllt. Vielleicht ist es auch kein Wunder, dass in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren der Sehnsuchtsort auf einer Liege am Meer unter der Sonne des Südens zu finden ist. Wie enttäuschend muss es wohl sein, wenn man bemerkt, dass der Urlaub oder eine Reise nicht automatisch nur Glück und große Erfüllung bedeutet und eine längere Zeit am Strand letztlich doch sehr sinnentleert ist und eine neue Form der Routine mit sich bringt.
Wie wir im Alltag verkleben
Was verbirgt sich also wirklich im Fernweh? Was suchen wir eigentlich am Meer oder in den Bergen? Was lässt uns in die weite Welt – in andere Länder und Landschaften – ziehen?
Ein zentraler Aspekt ist dabei sicherlich die Suche nach Abstand. Je länger uns nämlich etwas Vertrautes umgibt, desto mehr verkleben wir damit und unsere Wahrnehmung wird zunehmend stumpfer. Das betrifft unsere vertraute Wohnung genauso wie die Menschen, mit denen wir tagtäglich zusammenleben. Das können wir in unserer Arbeit ebenso beobachten, wie in unserer Abendgestaltung. Über alles legt sich mit der Zeit der Schleier der Gewohnheit. Wie eine dicke Staubschicht alle Farben blass und matt erscheinen lässt, so legt sich auch hier ein fader Geschmack über die Dinge unseres alltäglichen Lebens.
Die Kunst, aktiv herauszutreten
Erst wenn etwas geschieht, das die Pforten unserer sinnlichen Wahrnehmung reinigt, können wir unsere Umgebung wieder neu sehen und vor allen Dingen wieder fühlen. So kann durch ein unerwartetes Ereignis der gewohnte Blickwinkel vollkommen aufgebrochen werden und uns schlagartig die Kostbarkeit des Lebens neu empfinden lassen.
Nun müssen wir Gott sei Dank nicht auf einen Schicksalsschlag warten. Nein, wir können selbst aktiv für inneren Abstand sorgen. Das kann durch eine Reise in eine unvertraute Landschaft – also im Urlaub – geschehen, die uns aus der Routine des Alltags holt. Genauso können uns aber auch neue Begegnungen oder ungewohnte Aktivitäten ganz wach machen. Entscheidend ist, dass sich durch die hohe Konzentration auf etwas Neues, Unvertrautes unsere Wahrnehmung wieder öffnet. Der Moment verdichtet sich so stark, dass das Alte und Gewohnte zurücktritt und sich damit ein innerer Abstand einstellt. Gleichzeitig entsteht eine für den Alltag ungewohnte Intensität und damit Präsenz.
Fernweh oder vielleicht doch Heimweh?
Eine noch radikalere Form des Heraustretens ist sicherlich ein Meditationsretreat, in dem wir bewusst alles, was unser Leben ausmacht, zurücklassen, um uns der Gegenwart und der Stille zu widmen. Natürlich ist diese Form zunächst viel unbequemer als ein Urlaub am Strand, aber in gewisser Weise ist sie noch viel reinigender. Denn wir nutzen hier nicht neue Eindrücke, um einen inneren Abstand zu den alten zu ermöglichen, sondern treten aus allen Bezügen und Ablenkungen heraus und verdichten durch die Praxis der Meditation und des Erforschens den Augenblick auf eine ganz unmittelbare Art und Weise.
Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass wir im Alltag nicht nur mit den äußeren vertrauten Dingen und Beziehungen verkleben. Nein, wir verkleben auch mit uns selbst. Die Rollen, die wir tagtäglich einnehmen, bestimmen schleichend immer stärker unser Selbstgefühl. Fast unmerklich geht verloren, dass es ein SEIN jenseits von Rollen, Verpflichtungen und Beziehungen gibt – ein SEIN, das frei und unbedingt ist. Hier öffnet sich eine Liebe zu allem und ein Erfülltsein, das jenseits von Bedürftigkeit und Konsum existiert.
Ist es nicht letztlich das, was wir zuinnerst in der Ferne oder im Retreat suchen? Ein Heimkommen zu uns selbst? Könnte es sein, dass der Sehnsuchtsort im Fernweh eigentlich ganz nah ist, nämlich tief in unserem Inneren?
ÜBUNG: Eine Basisübung für inneren Abstand
Folgender Fragezyklus wird mehrmals nacheinander für 10 Minuten gestellt. Immer wenn die dritte Frage beantwortet und verkostet wurde, beginnt man erneut mit der ersten Frage… Auf diese Weise wird auf eine systematische Art und Weise immer mehr innerer Abstand eingeladen und vertieft.
- Lass etwas auftauchen, das derzeit dein Leben ausmacht? (z. B. Arbeit, Familie, Freunde, Hobbies oder auch innere Aspekte, wie Sorgen, Interessen, Wünsche, Anspannung,…)
- Welches Erleben stellt sich ein, wenn du an diese Sache denkst?
- Dann überlass diese Sache und die Gefühle dazu sich selbst und spür im Körper und in der Seele nach, was sich dabei ausbreitet, wenn du innerlich davon zurücktrittst… Lass dir Zeit, diese Gefühle zu verkosten…
- Dann beginne wieder mit der ersten Frage: Lass etwas auftauchen…
Frage dich zum Schluss: Wenn du von allem, was dein Leben derzeit äußerlich oder innerlich ausmacht, zurücktrittst, was breitet sich dann innerlich aus? Wie erfährst du hier dein Sein? Welche Qualität öffnet sich in der Seele?