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Achtsames Leben – Wie ein Pfeifen am Morgen

von Richard Stiegler

Frühling – die Zeit des Neubeginns. Früh morgens schon weckt uns das Vogelgezwitscher und lädt uns ein, mit unbeschwertem Herzen in den Tag zu gehen. Das Empfinden von Leichtigkeit ist kein Ausdruck von Oberflächlichkeit. Vielmehr spiegelt sich darin der natürliche Grundzustand der Seele. Immer, wenn wir innerlich frei sind und uns keine Vorstellungen beschweren, fühlen wir uns im Einklang und leicht – so leicht wie ein Pfeifen am Morgen.

„Nichts ist schwer, sind wir nur leicht.“
Mechthild von Magdeburg

Allerdings ist das Lebensgefühl der Leichtigkeit nicht selbstverständlich. Wie oft höre ich von Menschen, dass sie sich angestrengt und erschöpft fühlen. Ob in der Arbeit, in der Familie oder in der Freizeit, in allen Lebensbereichen kann es zu dem Gefühl kommen, dass das Leben Mühsal ist. Ist das Leben nun leicht oder anstrengend? Oder liegt es vielleicht auch an uns, wie uns das Leben erscheint?

 

Anstrengung, die uns erfüllt

Das Gefühl der Anstrengung ist in vielen Fällen nicht notwendig und so kann es äußerst lohnend sein, in Achtsamkeit zu erforschen, wo es auftritt und wodurch es verursacht wird. Denn wer wünscht sich nicht ein Leben, das einfach, entspannt und leicht ist?

Wenn wir Momente von Anstrengung genauer untersuchen, können wir beobachten, dass nicht alle Momente, in denen wir uns anstrengen, unangenehm sind. Tatsächlich gibt es zwei Arten von Anstrengung: natürliche Anstrengung und psychische Anstrengung durch Widerstand. Natürliche Anstrengung entsteht, wenn wir uns körperlich oder geistig betätigen. Wenn wir zum Beispiel eine längere Wanderung machen oder uns längere Zeit geistig konzentrieren müssen, wie beim Lernen einer Sprache, fordert uns das und wir verbrauchen Energie. Währenddessen aber fühlen wir uns energiereich und inspiriert und im Anschluss breitet sich ein angenehmes Gefühl von Müdigkeit und Erfüllung aus.

 

Wenn uns die Anstrengung auslaugt

Es gibt jedoch eine andere Form von Anstrengung, die uns nicht nur müde macht, sondern regelrecht auslaugt, so dass wir uns im Nachklang erschöpft und unerfüllt fühlen. Auch wenn es sein kann, dass diese Form der Anstrengung zu einem selbstverständlichen Begleitumstand unseres Alltags geworden ist, ist sie alles andere als natürlich, denn sie entsteht aus einer psychischen Dynamik, die uns zwar lange Phasen besetzen kann, aber weder natürlich noch notwendig ist.

Wenn wir diese Form von Anstrengung genauer untersuchen, werden wir entdecken, dass wir uns innerlich mehr anstrengen, als es die Situation erfordert. Und wenn wir noch tiefer schauen, erkennen wir, dass wir dabei etwas, meist unbewusst, abwehren. Tatsächlich liegt der meisten psychischen Anstrengung ein Widerstand zugrunde, der uns lange Zeit besetzen kann, ohne dass wir es bemerken.

„Erst durch den Widerstand wird etwas unangenehm, störend oder schmerzlich.“
Krishnamurti

 

Meditation als Spiegel

Ein typisches Beispiel hierfür ist die Meditation. In Schweigeretreats beobachte ich immer wieder, dass Einzelne unter großer Anstrengung leiden. Obwohl objektiv weder eine große körperliche noch eine große geistige Anstrengung gefordert ist, kämpfen manche Meditierende oft tagelang mit körperlichen Schmerzen, dem Gefühl von Anstrengung und großer Energielosigkeit. Ist Meditation anstrengend? Geht es nicht im Kern darum, „mit dem zu sein, was ist“? Was gibt es Einfacheres und Natürlicheres, als im gegenwärtigen Moment anwesend zu sein?

Wenn wir die Anstrengung in der Meditation nicht einfach nur hinnehmen, sondern deren Ursache genauer untersuchen, entdecken wir unbewusste Widerstände, die uns unterschwellig besetzen. Vielleicht wehren wir uns gegen das stupide Sitzen, gegen die Struktur eines Retreats oder (und das ist meistens der Fall) gegen unterschwellige Themen und Emotionen, die wir nicht zulassen. Wenn wir uns diesen abgewehrten Gefühlen zuwenden und sie ins Bewusstsein kommen dürfen, verschwindet das Gefühl der Anstrengung und wir sind wieder im Einklang. So dient uns die Meditation als Spiegel für innere psychische Dynamiken, die sich in allen Lebensbereichen abspielen können.

 

Anstrengung, Widerstand und Leiden

Es ist überaus lohnend, Bewusstheit in unsere „Mühsal“ zu bringen. In der Arbeit, mit Freunden oder mit unseren Kindern, immer wieder entdecken wir bei genauem Hinschauen Momente von Anstrengung, die wir oft übergehen und glauben, „durchstehen“ zu müssen, ohne uns dabei bewusst zu machen, wie unnötig und hausgemacht diese sind. Auch können sich in manchen Situationen natürliche und psychische Anstrengung mischen und uns glauben lassen, dass wir wirklich unter einer „echten“ Anstrengung leiden.

Doch leiden werden wir immer nur am Widerstand. Wenn wir zum Beispiel etwas lernen, das uns nicht interessiert, werden wir nicht am Lernen leiden, sondern an unserem Desinteresse, das wir uns nicht gestatten. Genauso verhält es sich, wenn wir uns in unserer Arbeit antreiben und unser natürliches Tempo dabei übergehen. Erst durch die Abwehr von (unerwünschten) Gefühlen und inneren Wesensanteilen entsteht eine Form der Anstrengung, die uns unnötig Energie kostet und das Gefühl von Mühsal erzeugt.

Wie bei allen negativen Emotionen gilt auch immer, wenn wir angestrengt sind: Jeder Moment einer Anstrengung ist eine gute Gelegenheit, um sich eines Widerstandes und einer Identifikation bewusst zu werden. Erst dann kann unser Leben wieder freier, leichter und einfacher werden.

 

ÜBUNG: Anstrengung und Widerstand

  • In welcher Situation oder Beziehung taucht immer wieder Anstrengung auf?
  • Wie genau erfährst du diese Anstrengung? Lass dazu eine körperliche Gebärde auftauchen und nimm sie ein. In welche innere Welt kommst du, wenn du diese Gebärde einnimmst? Stell dir vor, du würdest längere Zeit in dieser Welt gefangen sein, wo führt dich das hin?
  • Dann frage dich: Welche Vorstellung oder welcher Anspruch bewirkt die Anstrengung? Oder: Was gestattest du dir nicht, zu fühlen? Gegen was wehrst du dich?
  • Warum ist diese Vorstellung oder dieser Widerstand so wichtig für dich?
  • Leg jetzt bewusst die Vorstellung oder den Widerstand zur Seite und spüre, was sich dabei innerlich ausbreitet? Tauche tiefer in das jetzige Erleben hinein …