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Achtsames Leben – Wer sind wir eigentlich?
von Richard Stiegler
Immer wieder können wir beobachten, dass sich Menschen in verschiedenen Situationen sehr unterschiedlich verhalten. Kennen wir nicht alle Beispiele, in denen eine Person plötzlich eine Verhaltensweise an den Tag legt, die wir ihr nie zugetraut hätten? Und wie oft hat uns bereits schockiert, wenn innere Abgründe bei scheinbar „normalen“ und gut integrierten Menschen nach außen hin sichtbar wurden? Wenn diese äußerlich nicht in den verschiedenen Situationen den gleichen Körper hätten, würde niemand auf die Idee kommen, dass es sich um die gleiche Person handeln könnte.
Auch wenn wir unser eigenes Leben betrachten, entdecken wir diese Widersprüche. Verhalten wir uns nicht immer wieder in verschiedenen Umgebungen sehr unterschiedlich? Und müssen wir nicht manchmal verschämt zu geben, dass wir nicht wissen, was uns gerade „geritten“ hat?
Innere Anteile und ihre Wirkung
Meistens nehmen wir diese Widersprüche zwar wahr und sind davon irritiert oder empören uns sogar darüber, wenn es andere Menschen betrifft, aber wir betrachten sie nicht genauer. Dann würden wir nämlich sehen, dass es nicht die Ausnahme ist, dass sich Menschen sehr unterschiedlich verhalten, sondern die Regel. Da gibt es zum Beispiel eine Seite in uns, die ein starkes ökologisches Gewissen hat, und dennoch verhalten wir uns manchmal so, als wäre uns das vollkommen gleichgültig. Was ist nun mein wahres Ich?
Offensichtlich ist unsere Psyche keine kongruente Einheit, sondern besteht aus vielen, zum Teil sehr widersprüchlichen Anteilen. Manchmal sind uns die inneren Widersprüche bewusst und wir können sie in Ruhe moderieren. Manchmal aber übernimmt ein Anteil für kurze Zeit komplett die Führung und bestimmt uns völlig. Wir sind dann wie in einer Trance gefangen und dabei auf eine bestimmte Wirklichkeitsperspektive fixiert. Alle anderen inneren Potentiale und Bedürfnisse werden ausgeblendet.
Was definiert uns?
An dieser Stelle kann man sich natürlich fragen, was eine Person definiert: Ist es unsere äußere Gestalt? Oder ist es das lebendige Wirken eines Menschen, das durch den jeweiligen inneren Anteil geprägt ist, der gerade in den Vordergrund tritt?
Aus der gängigen Perspektive unserer Gesellschaft definieren wir den Menschen durch seine äußere Form und sind dann verwundert, wenn er sich plötzlich stark verändert oder widersprüchlich verhält. Wir könnten jedoch auch eine andere Perspektive einnehmen und auf das Lebendige schauen, das durch einen Menschen zum Ausdruck kommt. Nicht der Körper definiert dann die Person, sondern das lebendige Geschehen und damit die jeweilige innere Welt, welche durch die Person gerade wirkt.
Die Persona und das Lebendige
Diese zweite Betrachtungsweise findet sich auch in der Ursprungsbedeutung des Begriffes „Person“ wieder. „Person“ stammt vom griechischen Wort „prosopon“, bzw. dem lateinischen „persona“ ab, was sich auf die Maske einer Schauspielerin im antiken Theater bezieht, durch die die Spielende „hindurchtönt“. Es bezeichnet also die jeweilige Rolle, die die Schauspielende gerade spielt. Diese Rolle wird durch die äußere Maske – also das Gesicht im Sinne von sicht-bar – und das, was hindurchtönt, definiert. Wie wir wissen, kann eine Schauspielerin sogar in einem einzigen Theaterstück verschiedene Rollen einnehmen und glaubhaft verkörpern.
Spielen nicht alle Menschen unterschiedliche Rollen in dem einen Theaterstück ihres Lebens? Natürlich sind die alltäglichen Rollen, die wir einnehmen, meist nicht so markant und dramatisch wie im antiken Theater, sondern viel gewöhnlicher. Aber die Dynamik bleibt die gleiche. Wie ein/e gute/r Schauspieler/in schlüpfen wir in verschiedene Rollen, die dann unser Erleben und unser Verhalten bestimmen, allerdings meist ohne uns dessen bewusst zu sein.
Wer bin ich jetzt?
Offensichtlich sind wir keine kohärente Einheit, so wie es die äußere Erscheinung unseres Körpers vielleicht vermuten lässt. Nach außen treten wir als eine Person in Erscheinung, aber die inneren Anteile, aus denen heraus wir leben und handeln – also unsere inneren Welten –, sind höchst unterschiedlich. Wenn wir uns auf das tatsächliche lebendige Geschehen beziehen, das sich durch unseren Körper ausdrückt, dann verschwindet der Schein einer einheitlichen Identität und wir können nur noch danach fragen: „Wer bin ich jetzt – in diesem Augenblick?“ Oder anders ausgedrückt: „Welcher innere Anteil drückt sich jetzt durch mich aus?“
Mit dieser Frage verschiebt sich die Sicht auf uns selbst. Wir sehen uns immer weniger als eine feststehende, einheitliche Person mit klar definierbaren Eigenschaften, sondern begreifen uns mehr und mehr als eine fließende Identität, die man nur augenblicksbezogen definieren kann. Das mag uns zunächst seltsam vorkommen oder uns vielleicht sogar verunsichern. Aber wenn uns diese Perspektive vertrauter wird und wir uns mehr und mehr darauf einlassen, merken wir, was für eine Freiheit darin schlummert: Die Freiheit, in unterschiedlichste Facetten von Lebendigkeit zu schlüpfen und daraus zu leben. Ganz im Sinne von Alvaro de Campos, der es auf eine lyrische Weise so ausdrückt:
Ich bin nichts.
Ich werde nie etwas sein.
Ich kann nicht einmal etwas sein wollen.
Abgesehen davon trage ich in mir alle Träume der Welt.Alvaro de Campos
ÜBUNG: Einen inneren Anteil erkunden und verwandeln
- Nimm zunächst bewusst eine annehmende, unvoreingenommene und neugierige Haltung ein.
- Dann lass eine Situation auftauchen, in der du dich auf eine Weise verhalten hast, die dich verwundert oder befremdet, oder die du vielleicht sogar ablehnst.
- Visualisiere den inneren Anteil, der sich hier ausdrückt, als eine Fantasiegestalt – als eine innere Figur oder Karikatur.
- Dann untersuche diese Figur genauer: Wie schaut sie aus? Welche Ausstrahlung hat sie? In welcher Welt lebt sie? Wo wohnt sie? Was tut sie oder was arbeitet sie?
- Schlüpfe jetzt in diese Figur hinein und lass dich überraschen, wie es sich von innen in dieser Welt anfühlt: Wie fühlt es sich hier an? Welcher Körperausdruck passt dazu? Wie ist das Grundgefühl in dieser Welt und was sind die Grundüberzeugungen in dieser Figur?
- Dann frage dich: Was ist die zentrale Sehnsucht dieser Figur? Wonach sehnt sie sich zuinnerst?
- Stelle dir jetzt so konkret wie möglich vor, dass sich diese Sehnsucht erfüllt und spüre, was sich dann innerlich – in Körper und Seele – ausbreitet?
- Wie verwandelt sich die Figur dabei? Welche Gestalt nimmt sie an und wie kann sie jetzt sein? Was hat sie dir in deiner Ganzheit in dieser neuen Form zu geben?