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Achtsames Leben – Schöne neue Welt

von Richard Stiegler

Wir leben in einem digitalen Zeitalter. Fast jeder Mensch sitzt heute immer wieder vor dem PC oder dem Smartphone – ob im Beruf oder in der Freizeit, um Kontakte zu pflegen oder einen Einkauf zu tätigen. Durch die Pandemie hat diese Entwicklung noch an Fahrt aufgenommen und die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass sich das nicht mehr ändern wird, auch wenn eine Rückkehr zur gesellschaftlichen Normalität irgendwann wieder möglich sein wird. Natürlich gibt uns die Digitalisierung vieler Lebensbereiche enorme Möglichkeiten an die Hand, die besonders jetzt in dieser Ausnahmezeit bedeutsam sind. Wie froh sind wir doch, dass wir zumindest übers Internet einkaufen können, dass wir übers Handy mit unseren Freund*innen Kontakt halten können, dass Home-Office in vielen Berufen möglich ist und viele unserer Kinder zumindest notdürftig über digitale Plattformen unterrichtet werden können. Also alles gut?

Digital heißt vor allem viel

Die Digitalisierung birgt große Chancen, keine Frage. Aber sie hat auch ihre Schattenseiten, die beachtet werden wollen. So führt die Flut an Informationen und Bildern, die über uns in einer atemberaubenden Geschwindigkeit hinwegrauschen, dazu, dass wir kaum noch Luft holen und die Eindrücke verdauen können. Unsere Seele arbeitet nämlich viel langsamer als unser Verstand. Um etwas wirklich aufnehmen und verarbeiten zu können, brauchen wir Zeit. So führen die Schnelligkeit und die Menge der Eindrücke zu einer Reizüberflutung, die unser Leben oberflächlich macht. Wir erleben und erfahren dabei nur scheinbar ganz viel. Doch tatsächlich bleibt das Erleben flach, die Verbindung nach innen nimmt ab und unser Hunger nach echten, tiefen Erfahrungen nimmt immer mehr zu.

Ist die Zukunft körperlos?

Ein anderer problematischer Aspekt der neuen Medien ist, dass das visuelle System eine immer noch größere Dominanz bekommt. Anders gesagt: Bildschirme sind heutzutage allgegenwärtig. Ob im Auto, auf dem Smartphone, an der U-Bahn oder am Arbeitsplatz, überall wird unser Blick durch das bewegte Bild angezogen. Selbst für die Bedienung von modernen Geräten sind oft keine Knöpfe mehr nötig, sondern nur noch eine glatte Glasscheibe, auf der dann rein visuell Buttons erscheinen. Die schöne neue Welt ist eine visuelle Welt! Die anderen Sinne, wie das haptische Spüren, das Hören, das Riechen und überhaupt alles Körperliche wird dabei sukzessive in den Hintergrund gedrängt. Ist die Zukunft etwa immer mehr körperlos?

Bilder essen Seele auf

Um zu ermessen, was es bedeutet, wenn das Visuelle überhandnimmt, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, welche Bedeutung das Sehen in unserem Leben einnimmt. Mit dem Sehen erscheint eine äußere Welt, in der es klare handhabbare Objekte gibt. Dadurch können wir uns gut im Außen orientieren und zielgerichtet handeln. Doch was einerseits die Stärke des visuellen Systems ist, dass es eine Außenwelt hervorbringt, ist auch gleichzeitig seine Schwäche. Der Fokus unserer Aufmerksamkeit wird dabei nämlich nach außen gezogen und die unmittelbare Verbindung nach innen nimmt ab. Stellen wir uns doch mal vor, wie es wäre, wenn wir nur sehen könnten, und die anderen Sinne von Spüren, Hören und Fühlen abgeschaltet wären? Wir hätten kein Gefühl mehr für uns selbst. Wie ein seelenloser Zombie würden wir alles um uns herum sehen können und auch funktionieren, aber die unmittelbare lebendige Resonanz aus unserem Inneren würde fehlen. Um als lebendiges Geschöpf anwesend zu sein, brauchen wir nämlich einen Körper und ein fühlendes Wesen, in dem Empfindungen aufsteigen.

Fühlen wir uns nicht manchmal eigenartig leer und entfremdet, wenn wir längere Zeit an einem Bildschirm gesessen haben? Vielleicht müsste der berühmte Filmtitel von Rainer Werner Fassbinder „Angst essen Seele auf“ heute lauten: „Bilderflut essen Seele auf“.

Der Körper als Bindeglied

Wenn wir also nicht wollen, dass das Viele und das Visuelle der digitalen Inhalte mehr und mehr unser Selbstgefühl auffrisst, dann gilt es, aktiv dafür Sorge zu tragen, eine Ausgleichsbewegung zu finden. Diese könnte darin liegen, bewusst Räume aufzusuchen, in denen nicht das Viele, sondern das Wenige und Langsame vorherrscht. Wie wohltuend ist doch ein Spaziergang in Wald oder Wiese? Wie langsam und unspektakulär sind hier die Eindrücke? Und wie lässt die Natur uns in Ruhe, um wieder eine innere Verbindung herzustellen? Eine andere Möglichkeit ist es, sich regelmäßig eine Zeit für stille Meditation einzurichten. Ist diese nicht geradezu revolutionär im Gegensatz zur Informationsflut im Internet?

Doch geht es nicht nur darum, bewusst Räume der Entschleunigung und der Einfachheit zu pflegen, sondern auch die Dominanz des Visuellen aufzubrechen und bewusst die anderen Sinne – Spüren, Hören und Fühlen – zu nähren. Dazu müssen wir immer wieder unseren Körper und unsere Seele in den Mittelpunkt stellen. Besonders das Körperliche dient hier als Bindeglied für einen Kontakt zu uns selbst. Ob wir Joggen, Tanzen oder Yogaübungen machen – das visuelle System und das Denken treten sofort in den Hintergrund und können sich dabei entspannen. Noch intensiver wird der Kontakt zu uns, wenn wir uns mit einer vertieften Aufmerksamkeit dem körperlichen Innenraum zuwenden und ganz unmittelbar dem Atmen und den energetischen Empfindungen im Körper lauschen. Wir werden überrascht sein, welch tiefes Wohlgefühl sich ausbreitet, wenn wir wieder unseren Körper von innen her bewohnen.

ÜBUNG: Den Körper von innen her bewohnen

  • Nimm dir mehrmals im Tagesablauf 10 Minuten Zeit, folgende Übung zu machen und beobachte, welche Wirkung sie auf dein Gesamtbefinden hat.
  • Steh auf und atme mehrmals tief durch.
Dann strecke und dehne dich im ganzen Körper oder schüttle Arme und Beine aus. Schaff dadurch Raum in dir.
  • Dann setze oder lege dich hin und schließ die Augen. Konzentriere dich jetzt auf den Innenraum des Körpers: Spür den Raum und das lebendige Fließen und Strömen der Empfindungen darin. Lass dir Zeit dabei, bis du das Gefühl hast, deinen Körper von innen her zu bewohnen.
  • Dann lass von innen her eine Gebärde oder eine Bewegung auftauchen und nimm diese Gebärde oder Bewegung ein. Du brauchst sie nicht verstehen! Lass dich von deinem Körper leiten…
  • Tauche ganz in diese Gebärde oder Bewegung hinein und erlaub dir dabei, ganz Körper, ganz Bewegung zu sein.
  • Dann lass innerlich aus der Gebärde oder der Bewegung Worte auftauchen und lass diese Worte innerlich klingen, bis du sie in deiner Ganzheit fühlen kannst.
  • Lass jetzt am Ende die Gebärde wieder sinken und atme die Worte und das Gefühlte in die Stille hinein aus und lausche noch ein paar Augenblicke auf die Stille, die sich jetzt ausbreitet…