Beitrag

Achtsames Leben – Unberührt und andächtig

von Richard Stiegler

Ein neues Jahr liegt vor uns – wie eine unberührte Winterlandschaft. Ist es nicht ein erhabener Anblick, wenn wir im Winter unterwegs sind und eine noch jungfräuliche Schneedecke im Sonnenlicht glitzern sehen? Andächtig setzen wir Schritt für Schritt eine neue Spur in eine neue, stille Welt voller majestätischer Würde.

Hat die Landschaft nur in diesen besonderen Momenten eine Würde, wo sie uns so unverstellt und verzaubert erscheint? Oder hat sie diese eigentlich immer – auch dann noch, wenn sie von vielen Spuren gezeichnet ist oder der Schnee taut?

 

Was ist Würde?

Was ist eigentlich Würde und was macht sie aus? Vielleicht taucht bei manchen Lesenden beim Begriff „Würde“ die Assoziation eines Königs auf, der, die Krone auf dem Haupt, gemessenen Schrittes durch einen Saal schreitet. Oder wir hören eine Dame, die eine einfache Arbeit verrichten soll, pikiert klagen: „Das ist unter meiner Würde.“ Vielleicht fallen uns auch Männer ein, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen und dann glauben, ihre Würde mit Gewalt verteidigen oder wiederherstellen zu müssen? Aber haben diese Beispiele wirklich mit der Würde eines Menschen zu tun oder doch nur mit persönlichen Eitelkeiten?

Es gibt viele Assoziationen zum Begriff „Würde“. Häufig führen sie uns jedoch auf eine falsche Fährte, denn, hat eine Landschaft nur dort eine Würde, wenn sie unberührt – in Abendrot getaucht – vor uns liegt? Oder hat sie diese eigentlich immer, auch wenn sie – von Menschenhand gezeichnet – keine Bilderbuchlandschaft mehr ist. Hat ein Mensch nur dort Würde, wo er oder sie als neugeborenes Wesen auf die Welt kommt, oder auch dann noch, wenn er oder sie vom Leben gezeichnet auf dem Sterbebett liegt?

 

Selbstwert und Würde

Normalerweise ist der Begriff „Würde“ mit unserem Selbstwertgefühl verknüpft. Doch das sind zwei unterschiedliche Kategorien. Wie wir alle schon erfahren haben, kann das Selbstwertgefühl stark schwanken. Wir können uns wertlos fühlen und eine starke Scham empfinden. Genauso können wir uns aber auch großartig fühlen, uns über andere erheben und mit stolz geschwellter Brust herumlaufen. Sich wertvoll zu fühlen oder nicht, hängt stark davon ab, ob sich gerade unsere Wertvorstellungen und Ideale erfüllen oder nicht, und auch davon, ob uns andere Menschen wertschätzen oder entwerten.

Aber verliert ein Mensch seine Würde, bloß weil ihm etwas misslingt und er sich schämt? Kann man einer Person ihre Würde nehmen, wenn man sie entwertet und sie sich klein gemacht fühlt? Ändert sich die Würde eines Menschen, wenn er kurzzeitig stolz als Sieger auf einem Siegertreppchen steht?

 

Würde ist kein Gefühl

Die Kategorie „Würde“ reicht offensichtlich viel tiefer als der gefühlte Selbstwert. Tatsächlich ist sie davon unabhängig. Denn Würde ist kein Gefühl, sondern der grundlegende Wert, der der Existenz eines Wesens immanent ist. Daher nennt man ihn auch den seins-haften oder essenziellen Wert. Erst wenn wir unsere Ideen über Wert und Unwert zur Seite stellen, können wir die Würde einer Person erkennen. Sobald wir aber die Brille unserer üblichen Werturteile aufsetzen, sehen wir nur ein Zerrbild unserer Vorstellungen, aber nicht die davon unabhängige natürliche Würde eines lebendigen Geschöpfes.

Wenn wir zum Beispiel einen Baum betrachten, können wir ihn schön oder hässlich finden, anmutig oder profan. Aber erst dort, wo wir all unsere Vorstellungen und Vorlieben zur Seite stellen und kontemplativ seine Existenz in uns aufnehmen, öffnet sich uns die Würde des Baumes, welche eine viel tiefere Wirklichkeit besitzt als all unsere üblichen geistigen Zuschreibungen und Kategorien. Oder wenn wir irgendeinen Menschen betrachten, können wir ihn „sympathisch“ und „attraktiv“ finden oder als „uninteressant“ oder „unmöglich“ abqualifizieren. Aber erst jenseits des Schleiers unserer Urteile und Vorlieben können wir diesem Menschen wirklich nahekommen und seinen essenziellen Wert, der in seinem Sein begründet liegt, erkennen.

 

Eine unberührte Landschaft

Wenn die Würde eines Wesens in seiner Existenz liegt und nicht von Wertvorstellungen und Rollenbildern abhängt, dann kann sie auch nicht vermehrt oder vermindert werden. Wir können unserer Würde nichts hinzufügen oder wegnehmen, auch wenn es manchmal so erscheint. Sie ist unsere natürliche, lebendige Existenz – unabhängig davon, welche Dramen, Prägungen, Erfolge oder Misserfolge, Auszeichnungen und Schmähungen wir erleben.

„Ich wusste, man kann mich zu Asche machen.
Aber ich wusste auch, dass es etwas in mir gibt, das nicht sterben kann.“

Jehuda Bacon (ein Auschwitz-Überlebender)

Obwohl die Würde im Kern immer unberührt bleibt, hat es gleichzeitig eine enorme Bedeutung, ob wir die Würde eines Wesens sehen und anerkennen oder nicht. Wie behandeln wir beispielsweise eine andere Person, die eine gegensätzliche und für uns unakzeptable Meinung vertritt, wenn wir gleichzeitig die Würde dieses Menschen anerkennen? Wie gehen wir selbst durchs Leben, wenn wir in unserer natürlichen Würde – und damit in unserem seins-haften Wert – gegründet sind? Wie viel fällt von uns ab, wenn wir spüren, dass keine Attribute und keine Anstrengungen dafür nötig sind, um wertvoll zu sein?

Könnte es nicht ein wunderbares Motto für das Jahr 2025 sein, sich bei allen oberflächlichen Ereignissen und Verwerfungen kommender Monate immer wieder auf das Wesentliche von Existenz zu besinnen: die Würde alles Lebendigen?

 

ÜBUNG: Selbstwert, Strategien und Würde

  • Reflektiere: Welches sind typische Strategien, die dir „Wert“ geben sollen?

  • Visualisiere jetzt zu deinem normalen Selbstwertgefühl und deiner wichtigsten Strategie eine innere fantasievolle Figur: Wie schaut sie aus? Welche Ausstrahlung hat sie? In welcher Welt lebt sie? Wo wohnt sie? Wie verhält sie sich und was tut oder arbeitet sie? Gib ihr einen Namen.

  • Schlüpfe jetzt in diese Figur hinein und erkunde von innen her, wie es sich hier anfühlt. Lass dazu einen Körperausdruck auftauchen und nimm ihn ein. Lass dir Zeit, das innere Erleben in dieser Welt zu spüren…

  • Frag dich dann: Was ist die zentrale Sehnsucht dieser Figur? Wonach sehnt sie sich zuinnerst?

  • Stelle dir jetzt so konkret wie möglich vor, dass sich diese Sehnsucht erfüllt: Was breitet sich dann innerlich aus? Im Körper und in der Seele? Lass dir Zeit, das zu verkosten…

  • Dann strecke dich ganz bewusst. Atme tief durch und schaffe Raum in dir…

  • Spüre jetzt, wie es sich anfühlt, wenn es zuallererst eine tiefe Bejahung für dein Dasein, für dein natürliches Lebendigsein gibt, und nicht dafür, was du tust oder wie du bist. Lass die Worte in dir klingen: „Dasein genügt“

  • Was breitet sich dabei innerlich aus? Lass dazu eine Gebärde oder ein Bild auftauchen. Erforsche, in welche innere Welt du hier kommst…

  • Welches Grundgefühl entsteht, wenn du in deiner Würde gegründet bist? Wie kannst du dann sein – in dir, in Beziehungen und im Leben?