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Achtsames Leben – Tun oder Nicht-Tun?
von Richard Stiegler
Der Sommer ist vorbei und für die meisten Menschen hat der Arbeitsalltag wieder begonnen. Ob im Job, in der Familie oder im Haushalt, meist gibt es im Alltag viel zu erledigen. Anders gesagt: Das Tun steht im Vordergrund und fordert allzu oft unsere ganze Aufmerksamkeit. Wie leicht geht da unsere Verbindung nach innen – zur Seelenrealität – in den vielen alltäglichen Herausforderungen verloren?
Doch halt: Gibt es nicht auch die spirituelle Grundhaltung des Nicht-Tuns? Und könnte sie für unser Leben einen echten Unterschied machen – auch dort, wo wir im Getriebe von vielen kleinen alltäglichen Notwendigkeiten stecken?
Nicht-Tun als Lebenshaltung
Was meint dieses Nicht-Tun eigentlich? Vielleicht ahnen wir bereits, dass es keine Aufforderung ist, die Hände in den Schoß zu legen und nichts mehr zu tun. Es meint auch keine Urlaubssehnsucht oder die Hoffnung auf Optimierungstechniken wie „Speed-Learning“ oder Zeitmanagement, welche uns helfen sollen, das Leben (noch) effektiver zu gestalten. Vielmehr ist es eine Grundhaltung dem Leben gegenüber, die unsere Art und Weise, im Leben zu sein und zu handeln, verändert. Es geht also um das „wie und woraus wir handeln“ und nicht darum, „ob oder was oder wieviel wir tun“.
Nicht-Tun bedeutet nicht, nichts zu tun und still zu bleiben, sondern allem ist erlaubt zu tun, was es natürlicherweise tut, so dass der Natur genüge getan wird. Wer nicht gegen die Natur handelt oder gegen den Strich der Dinge streicht, der ist in Harmonie mit dem Tao. Beim Nicht-Handeln kann alles getan werden: das bedeutet, mit dem zu gehen, was ist.
Stephen Wolinsky
Nicht-Tun und die Verbindung nach innen
Nicht-Tun ist eine Lebenshaltung, die also im Einklang mit dem natürlichen Lebensfluss ist und daraus handelt. Das hört sich erstmal schön an. Aber dabei stellen sich grundlegende Fragen: Woraus besteht der natürliche Lebensfluss? Und gibt es einen unnatürlichen Lebensfluss?
Blicken wir zunächst nach innen – auf den inneren Seelenfluss. Schließlich geht es bei der Haltung des Nicht-Tuns zuallererst um das wie und nicht um das was. Damit erfordert eine solche Haltung zunächst eine tiefe Verbindung nach innen. Das ist jedoch alles andere als selbstverständlich, da in unserer modernen westlichen Gesellschaft unsere Aufmerksamkeit sehr stark nach außen gelenkt wird. Erfolg, Effektivität, Konsum, Prestige, Besitz, Anerkennung und große Ziele sind alles äußere Kategorien, die uns verführen können, die innere Verbindung mit dem, was für unser Leben wirklich bedeutsam ist, aus den Augen zu verlieren.
Was uns wirklich bewegt, lebt nämlich in unserer Seele und zeigt sich immer, wenn wir eine tiefere Verbindung mit dem Leben spüren. Vielleicht rührt uns etwas an oder wir empfinden die Schönheit in unserer Umgebung oder die Kostbarkeit, gerade lebendig zu sein und unsere Hausarbeit erledigen zu können. Sind wir in diesen Momenten dem Leben nicht viel näher, als dort, wo wir großen Zielen nachjagen?
Die natürliche Seelenbewegung
Voraussetzung für eine solche innere Verbindung mit dem Leben ist jedoch, dass wir innerlich und äußerlich im Einklang sind. Die natürliche Seelenbewegung entsteht nämlich aus dem Einklang mit dem Leben in seiner Ganzheit. Sie ist Ausdruck einer bedingungslosen Annahme. Wir kämpfen nicht gegen den Fluss des Lebens und versuchen nicht, dem Leben unsere Vorstellungen und Vorlieben abzutrotzen, sondern erkennen den natürlichen Lauf der Dinge an.
Immer dann nämlich, wenn wir mit unseren Ideen, wie das Leben sein soll, verhaftet sind, entsteht eine Verneinung und damit eine Reibung. Die Wirkung ist meist nicht, dass sich das Leben unseren Plänen fügt, sondern dass wir das Leben als anstrengend empfinden. Zusätzlich können hier negative Emotionen von tiefer Frustration bis hin zu unbändiger Wut entstehen, die alle in der Verneinung der Wirklichkeit wurzeln. Meist ist uns die Ursache unseres Leidens nicht bewusst und so kann es sein, dass wir unbewusst lange Zeit darin feststecken und gegen den Lauf der Dinge ankämpfen.
Nicht-Tun ist Hingabe
Wie einfach und leicht wird es doch, wenn es uns gelingt, unsere Vorstellungen und Vorlieben nur für einen Augenblick sich selbst zu überlassen. Sofort öffnet sich dabei innerlich ein Raum der Weite. Hier können wir wieder durchatmen. Hier spüren wir kein Tun und keine Anstrengung, sondern eine Empfänglichkeit, in der alles Leben geschieht.
Wenn wir in dieser Haltung unseren Tätigkeiten nachgehen, fühlt es sich nicht nach Anstrengung, sondern nach Fließen an. Eine natürliche Bewegung der Hingabe ans Leben. Oder anders gesagt: Wir spüren, wie das Leben ganz natürlich durch uns lebt und arbeitet und sich verschenkt. Und ja, das geht auch bei der Hausarbeit.
Nichts ist schwer,
sind wir nur leicht.Mechthild von Magdeburg
ÜBUNG: Ein Freiraum im Getriebe des Lebens
- Nimm dir mehrmals am Tag einen Augenblick Zeit, bei einer Tätigkeit 5 Minuten innezuhalten. Streck dich und atme tief durch und erlaube dir, alle inneren und äußeren Anforderungen des Lebens für einen Augenblick abzustreifen.
- Fühle den Raum, der sich dabei innerlich öffnet und tauche tiefer in diesen Freiraum ein. Verkoste ihn!
- Entspanne dich immer tiefer in diesen Freiraum hinein – bis sich eine vollkommene Empfänglichkeit öffnet. Lass dir Zeit zu spüren, wie du diese Empfänglichkeit gerade im Körper und in der Seele spürst.
- Dann spüre, wie es ganz natürlich und ganz frei und leicht in dir atmet und das Leben in dir strömt. Verkoste dieses Erleben einen Augenblick!
- Dann wende dich wieder deiner äußeren Tätigkeit zu und spüre, wie es sich anfühlt, wenn dein Tun aus diesem inneren Freiraum heraus geschieht.