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Achtsames Leben – Sehnsucht nach Erholung?
von Richard Stiegler
Es ist wieder Sommer – Zeit für Erholung und um Kraft zu tanken. Doch wo erholen wir uns wirklich? An fernen Stränden oder mit einem guten Buch auf dem Balkon? Bei einer einsamen Wanderung in der Natur oder bei einem ausgelassenen Treffen mit lieben Freunden?
In den Büchern von Carlos Castaneda, in denen der Autor seinen Einweihungsweg bei einem Schamanen mit dem Namen Don Juan beschreibt, stellt ihn der Schamane zunächst auf die Probe. Er gibt ihm die Aufgabe, seinen Kraftplatz auf der Veranda des Hauses zu suchen. Fast die ganze Nacht versucht nun Castaneda auf verschiedene Arten herauszufinden, was die richtige Stelle ist, bis er irgendwann erschöpft aufgibt und einschläft. Morgens wird er lachend von Don Juan geweckt, der dem verdutzten Castaneda erklärt, dass er auf seinem Kraftplatz eingeschlafen sei.
Ein Kraftplatz, auf dem man einschläft?
Wenn man das Wort „Kraftplatz“ hört, denken die meisten Menschen zunächst an einen Ort, der Kraft und Energie ausstrahlt. Vielleicht denken wir an einen großen Felsen in der Natur, der sich mächtig und kraftvoll in der Landschaft erhebt und uns ein erhabenes Gefühl vermittelt. Wer kennt solche „energetischen“ Plätze nicht?
Doch der Schamane Don Juan meint mit Kraftplätzen etwas anderes, nämlich Orte, an denen man loslassen kann. Plätze nämlich, an denen wir viel Energie spüren und wir uns großartig fühlen, sind aus seiner Sicht Orte, wo man sich nicht wirklich sicher fühlt und sich entsprechend innerlich mobilisieren muss. Folglich fühlen wir uns energetisiert. Wenn wir dagegen an einem Platz entspannen können und müde werden, dann sei das ein Zeichen, dass wir uns sicher und geborgen fühlen. Entsprechend können wir uns hier niederlassen, einsinken und einfach sein. Die wirklichen Kraftplätze sind also diejenigen, an denen wir loslassen können.
Die Bedeutung der Entspannung
Vielleicht ist es an dieser Stelle wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, wie bedeutsam die Entspannung für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden ist. Nur in der Entspannung arbeitet der Parasympathikus – das Ruhesystem im zentralen Nervensystem. Dadurch werden Hormone ausgeschüttet, die Glücks- und Verbundenheitsgefühle erzeugen. Aber nicht nur das. Auch die Schmerzempfindlichkeit im Körper sinkt dabei, die Selbstheilungskräfte nehmen zu und das Immunsystem wird aktiviert. Mit anderen Worten, nur in der Entspannung kann unser Körper auftanken und sich regenerieren. Wir wissen alle, wie bedeutsam guter Schlaf ist und wie es uns auszehrt, wenn wir längere Zeit nachts nicht gut schlafen können.
Und geistig? Wann regeneriert sich unser Geist? Nur in Augenblicken, wo uns keine neuen Eindrücke beschäftigt halten. Daher ist es für unser Gehirn entscheidend, dass wir auch im Tagesverlauf Zeiten einbauen, in denen wir uns von „geistigem Futter“ fernhalten, alle Medien ausschalten, nichts lesen und einfach nur da sind. Eine sehr wirkungsvolle Möglichkeit dafür ist es, mittags eine Tiefenentspannung zu machen.
Heimkommen
Doch nicht nur für Körper und Geist ist Entspannung heilsam. Auch unsere Seele sucht Orte, in denen sie zur Ruhe kommen kann. Dabei ist entscheidend, dass wir uns angenommen fühlen. Ob in der Natur, in der Meditation oder im Kreis guter Freunde, immer dort, wo wir uns bedingungslos angenommen fühlen, lösen sich subtile Verkrampfungen und Anstrengungen in unserer Seele und wir können uns innerlich ausbreiten. Unsere Lebensenergie wird dann nicht mehr durch die Muster unseres Egos verbraucht, sondern kann sich frei entfalten und uns nähren. Daher ist das Erleben von Angenommensein für unsere Seele zutiefst heilsam. Sobald wir uns in die Annahme tiefer hineinentspannen, können wir tief zu uns selbst finden und ein inneres Heimkommen empfinden.
Ein Mensch fand einen Ruheplatz
von dem er nie mehr wich.
Es war ein wunderbarer Schatz,
er fand den Platz – in sich.
Alfons Schweiggert
Das Erwachen der Sinne
Entspannung ist jedoch nicht nur heilsam, sondern ermöglicht uns einen anderen Zugang zur Innenwelt. Solange wir in Aktivität und Anspannung gefangen sind, gibt es kaum die Möglichkeit für eine feine und differenzierte Wahrnehmung. Erst im Loslassen entsteht eine Sensitivität für das gegenwärtige Erleben und diese ermöglicht uns einen intensiven Kontakt und eine Berührbarkeit im gegenwärtigen Augenblick.
Wir kennen diesen Unterschied zwischen oberflächlicher Wahrnehmung und echter Sensitivität alle: Wir können eine Blüte, die auf der Wiese wächst, oberflächlich wahrnehmen und die gleiche Blüte kann uns zu Tränen rühren. Erst im Zustand der Entspannung, der Muße und der inneren Empfänglichkeit wachen unsere Sinne auf und wir können die Schönheit und Kostbarkeit des Lebens empfinden. Was man sich meistens nicht so bewusst macht, ist: Genießen kommt von innen!
Kraftplätze im Alltag
Natürlich ist es auch lustvoll, aktiv zu sein und Dinge beherzt anzupacken, aber wenn wir uns nicht immer wieder tief in die Ruhe sinken lassen, dann bluten wir aus. Geben wir also der Entspannung und dem Loslassen genug Raum in unserem Leben? Schätzen wir die Entspannung und die Muße genauso wert wie die Aktivität? Ist unsere Grundhaltung, aus der wir leben, getragen von Tun, Leisten, Wollen und Anspannung oder davon, aus einem inneren Raum von Angenommensein und Muße heraus unserem Leben nachzugehen?
Eine Möglichkeit, uns immer wieder in die Entspannung zu begeben, ist, Kraftplätze in unserem Umfeld aufzusuchen. Persönliche Orte des Zur-Ruhe-Kommens, an denen wir regelmäßig auftanken können. Vieleicht gibt es sogar einen Platz in unserer Wohnung, in einem nahegelegenen Park oder einer stillen Kirche? Vielleicht gibt es auch einzelne Menschen oder Gemeinschaften, wo wir uns angenommen fühlen und welche wir regelmäßig besuchen können? Dann müssen wir unsere Sehnsucht nach Entspannung nicht allein auf den Urlaub projizieren.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine schöne und erholsame Sommerzeit! Da ich selbst auch eine Auszeit nehme, wird der nächste Newsletter erst im September erscheinen.
ÜBUNG: Kraftplätze in meinem Alltag
- Reflektiere: Wieviel Wert gibst du in deinem Leben der Muße, der Entspannung, also Räumen des Seins?
- Dann reflektiere darüber, welche „Kraftplätze – also Orte des Loslassens und Zu-dir-Kommens“ – du in deinem Leben zur Verfügung hast? (z.B. Orte, Beziehungen, Hobbies, …)
- Erforsche jetzt, was sich innerlich an einem für dich wichtigen „Kraftplatz“ ausbreitet: Stell dir innerlich vor, an diesem Ort zu sein. Dann frage dich: Welche Empfindungen und Gefühle tauchen hier auf? Begib dich tiefer hinein und lass dazu einen körperlichen Gestaltausdruck auftauchen. Lass dazu Worte auftauchen und diese in dir klingen. Welches phantasievolle Bild entsteht zu diesem Erleben?
Lass dir Zeit, tief in dieses Erleben einzutauchen, bis es sich in deiner Ganzheit ausbreitet … - Reflektiere: Wie lebst du dein Leben, wenn du innerlich entspannt und aufgetankt bist? Betrachte das in verschiedenen konkreten Alltagssituationen.