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Achtsames Leben – Reifezeit
von Richard Stiegler
Herbst ist Reifezeit. Viele Apfelsorten lassen sich bald ernten. Reife Früchte kann man leicht erkennen. Doch woran erkennt man einen reifen Menschen? Gibt es überhaupt klare Kriterien beim Menschen, nach denen wir seinen Reifegrad erahnen können?
Wie heißt es in der Bibel? „An den Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Mt, 7,16) Wenn wir also ein Gefühl für den Reifegrad eines Menschen bekommen wollen, geht es nicht darum, was jemand tut (ob er zum Beispiel meditiert oder nicht). Es geht auch nicht um seine oder ihre gesellschaftliche Stellung oder das, was er oder sie sagt oder nach außen hin vorgibt zu sein. Nein, die Reife erkennen wir an der Art, wie ein Mensch lebt und wirkt. Nicht im „was“, sondern im „wie“ zeigt sich, wieviel Offenheit und Präsenz, wieviel Gelassenheit, Mitgefühl und Weisheit er oder sie verkörpert.
Der Mechanismus der Identifikation
Wie steht es nun mit unserer eigenen Reife? Und lässt sie sich fördern? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst wichtig, dass wir verstehen, was Menschen dazu bringt, engstirnig, emotional, impulsiv, verblendet, aggressiv, egoistisch, … sich also reaktiv zu verhalten. Was nimmt uns unsere Gelassenheit? Was verschließt unsere Herzensgüte? Wie gelangen wir in einen Egotunnel?
Der zentrale Mechanismus für all diese unseligen Handlungen ist die Identifikation. Ein bestimmtes Gedanken- oder Gefühlsmuster rastet ein und bestimmt plötzlich unser Erleben und unser Handeln. Wie bei einer Hypnose verengt sich urplötzlich das Blickfeld auf das entsprechende Muster und wir verlieren unsere Wahlfreiheit. Vielleicht fühlen wir uns kritisiert und schon wird ein altes Bedrohungsfühl aktiviert und fängt an, uns zu besetzen. Wenn wir dann daraus handeln, ist die Handlung rein reaktiv – ein Ausagieren des inneren alten Musters. Kein Wunder also, dass es dann zu Konflikten kommt und sich keine heilsamen „Früchte“ in uns und in unseren Beziehungen entfalten können.
Eine Wachheit für den Reaktionspunkt entwickeln
In diesem Sinne bedeutet menschliche Reife, dass wir nicht mehr von Identifikationen bestimmt werden und reaktiv handeln, sondern aus einem inneren Zustand heraus leben und wirken, an dem wir frei, gelassen, und mitfühlend sind. Doch ist es überhaupt möglich, aus dieser zutiefst menschlichen Neigung, sich mit alten Gedanken- und Gefühlsmustern zu identifizieren, auszusteigen?
Ja, es gibt einen Weg, sich aus automatischen Reaktions- und Leidensmustern zu befreien, allerdings geht das nicht von heute auf morgen, sondern erfordert eine stetige und liebevolle Wachheit für die Momente, wo alte Reaktionsmuster aktiviert werden. In der Transpersonalen Prozessarbeit wird der Beginn einer Identifikation „Reaktionspunkt“ genannt. Nur wenn wir einen Reaktionspunkt als solchen erkennen, haben wir die Möglichkeit, das Leidensmuster unmittelbar zu durchbrechen.
Der natürliche Zustand von innerer Freiheit
Um eine Wachheit für Reaktionspunkte zu entwickeln und einen Pfad der inneren Freiheit und Heilung zu beschreiten, sind mehrere Voraussetzungen notwendig. Zum einen benötige ich ein klares Empfinden dafür, wie es sich anfühlt, wenn ich frei von Reaktionen bin. Typischerweise erfährt man diesen natürlichen Grundzustand der Seele als innerlich entspannt und weit. Hier kann ich die Geschehnisse empfangen und in Ruhe wirken lassen. Ich kann zuhören und mein Herz ist offen und mitfühlend. Wenn ich auf diese Weise in meiner Mitte ruhe, steht das Zeugenbewusstsein im Zentrum. Alle inneren und äußeren Vorgänge können in einer Gelassenheit beobachtet werden, ohne dass ein Handlungsdruck entsteht.
Nur wenn ich diesen natürlichen Zustand von innerer Freiheit gut kenne, werde ich auch sofort bemerken können, wenn mich ein Reaktionsmuster zu besetzen droht. Die typischen Anzeichen dafür sind, dass der innere Raum enger wird und eine Anspannung in Körper und Seele entsteht, die zu einem Handlungs- oder Zeitdruck führt. Außerdem melden sich plötzlich Emotionen, die das Erleben einfärben. Das Blickfeld und die Gedanken werden eindimensional, die Klarheit geht verloren und auch die Fähigkeit, mit dem Herzen das Geschehen zu umfassen.
Mitgefühl und Wachheit
Können wir also den Moment bemerken, wo die Reaktion beginnt? Wenn ja, haben wir die Möglichkeit, innezuhalten und einen Raum der Bewusstheit zu schaffen. Auf diese Weise können wir uns liebevoll um unsere Reaktion kümmern, sie erstmal setzen lassen oder sie erforschen, bis sich wieder der natürliche Grundzustand von Offenheit in uns ausbreitet. Dadurch stärken wir systematisch das Zeugenbewusstsein und die innere Freiheit – und damit den Ort, aus dem heraus wir für uns und andere heilsam wirken können.
Was bedeutet also menschliche Reife? Dass wir nicht mehr reagieren und immer und jederzeit gelassen und annehmend sind? Das wäre wohl doch ein Ideal, welches wie alle Ideale übermenschlich ist und von den Wenigsten erreicht werden dürfte. Eine viel realistischere Sichtweise über Reife ist dagegen, uns grundsätzlich zuzugestehen, dass wir immer wieder unsere Mitte verlieren und reagieren werden, weil unser Geist so ist, wie er ist. So können wir einerseits Mitgefühl mit uns haben, wenn wir in alte Reaktionsmuster fallen, aber wir haben auch die Möglichkeit, diese wach zu bemerken und daraus auszusteigen. Wir sind den Leidensmustern somit nicht hilflos ausgeliefert und können das Heilsame in unserem Leben und in unseren Beziehungen nähren.
Zwischen Reiz und Reaktion ist ein Raum,
wo Heilung und Entwicklung stattfindet.
– Rumi
ÜBUNG: Der natürliche Grundzustand von innerer Freiheit
- Strecke und dehne dich. Schüttle dich aus und schaffe Raum in dir…
- Dann frage dich: Wie erfährst du deinen natürlichen Grundzustand von innerer Freiheit? Was breitet sich hier spontan im Körper aus? Lass einen körperlichen Gestaltausdruck dazu auftauchen und nimm ihn ein. Welche Gefühle tauchen hier auf? Lass zu diesem Zustand ein phantasievolles Bild auftauchen.
- Wie schaust du von hier aus auf dich und das Leben?
- Woran kannst du es besonders deutlich erkennen, dass du im Grundzustand von innerer Freiheit bist? Tauche jetzt noch tiefer in diesen Zustand ein, in dem du das wesentliche Erleben, das sich hier zeigt, in deiner Ganzheit spürst…
- Achte im weiteren Tagesverlauf darauf, ob und wann du diesen Grundzustand von Offenheit verlierst. Sei aufmerksam für Reaktionspunkte. Nimm sie wach und liebevoll wahr. Du darfst innerlich reagieren! Es geht nur darum, es wach zu bemerken und sich wahrhaftig und liebevoll darauf zu beziehen, ohne die Reaktion auszuagieren.