Beitrag
Achtsames Leben – Licht im Novembergrau
von Richard Stiegler
Es gibt Tugenden, die das menschliche Leben bedeutend erleichtern. Dazu gehört die Haltung der Freundlichkeit. Wie hebt es doch die Stimmung, wenn uns Menschen am Morgen mit einem freundlichen Lächeln begrüßen? Ist es nicht, als ob ein Sonnenstrahl durch das Novembergrau dringt und unsere Seele wärmt? Und wie berührend ist es doch, wenn wir in einer fremden Stadt auf freundliche Menschen treffen, die uns selbstverständlich weiterhelfen? Wenn uns jemand mit echter Freundlichkeit begegnet, fällt es schwer, selbst unfreundlich zu sein.
Dabei ist die Haltung der Freundlichkeit viel mehr als eine oberflächliche gesellschaftliche Konvention. Sie ist eine tiefgreifende spirituelle Grundhaltung, die uns selbst und andere verwandeln kann. Wer diese Haltung verinnerlicht und aus ihr lebt, kann viel „Licht“ in die Welt bringen, sogar an grauen Novembertagen.
Das Wesen von Achtsamkeit
Wenn wir die Haltung der Freundlichkeit genauer betrachten, entpuppt sie sich als ein zentraler Aspekt von Achtsamkeit. Denn Achtsamkeit ist eine annehmende – ja, man könnte sogar sagen: liebende – Bezugnahme zu dem, was ist. Ein anderer Begriff dafür ist schlicht und ergreifend „Freundlichkeit“.
Achtsamkeit bezieht sich auf die Gegenwart und geht wahrhaftig in Kontakt mit den „Dingen“. Wirklicher Kontakt findet aber erst dann statt, wenn wir uns annehmend, also freundlich, beziehen. Denn wie betrachten wir etwas, wenn wir es ablehnen? Und wie nehmen wir die gleiche Sache wahr, wenn wir uns dafür öffnen und uns mit Interesse zuwenden?
Der Grund für positive und negative Emotionen
Unsere innere Haltung hat nicht nur einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung, sondern ebenso auf unsere Gefühle. Wenn wir traurig oder wütend sind und dabei unseren Geist untersuchen würden, würden wir feststellen, dass diese Emotionen immer aus einer Form von Ablehnung entstehen. Daher nennt man diese Gefühle auch negative Emotionen. Nicht weil sie „negativ“ oder schlecht sind, sondern weil sie aus einer Negation entstehen. Umgekehrt gibt es viele Gefühle, die aus einer annehmenden Haltung entstehen, sogenannte positive Emotionen, wie zum Beispiel Freude oder ein Freiheitsgefühl.
Unsere innere Haltung den Dingen gegenüber hat also einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Gefühlswelt. Mit anderen Worten: Es gibt kein objektives Erleben. Wie wir die Dinge erfahren, hat mit der Art und Weise zu tun, wie wir uns einer Sache zuwenden.
Den Menschen erregen nicht die Dinge selbst, sondern seine Sicht der Dinge.
Epiktet
Eine radikale Botschaft
Die Ursache für den menschlichen Leidenskreislauf, für Kampf, Anstrengung und viele unangenehme Emotionen liegt folglich in erster Linie in uns selbst – in unserer ablehnenden Haltung zu den Dingen. Diese Botschaft klingt radikal und wirft uns auf uns selbst zurück. Aber gleichzeitig ist sie auch befreiend, denn das äußere Geschehen können wir nur sehr bedingt ändern, unsere innere Haltung jedoch schon.
Es gibt also einen Weg, aus dem hausgemachten Leiden zu erwachen. Dazu muss sich nichts verändern. Alles kann so bleiben, wie es gerade ist: unsere Partnerschaft, unser Beruf, unsere persönlichen Schwächen und unsere nicht perfekte Meditation. Alles kann bleiben, wie es ist, und wir können gleichzeitig die Leidensperspektive verlassen, indem wir uns auf die befreiende Haltung von Annahme und Freundlichkeit einstimmen.
Unser Beitrag zum Frieden
Freundlichkeit ist sanft. Sie wendet sich zu und verbindet sich mit den Dingen. Freundlichkeit muss sich nicht schützen, hinter Masken verstecken oder den Kontakt vermeiden. Solange du innerlich freundlich bist, bestimmt dich nicht die Angst und nicht die Urteile deines Über-Ichs. Aus diesem Grund kennt Freundlichkeit keine Kritik und kann tiefer sehen, was ist.
Wenn du einen Salat pflanzt und er wächst nicht gut, dann tadelst du ihn nicht. Du suchst eher nach der Ursache, warum er nicht gedeiht. Vielleicht braucht er Dünger, vielleicht mehr Wasser oder weniger Sonne. Aber du tadelst ihn nicht.
Doch wenn wir mit unseren Freunden oder unserer Familie Probleme haben, dann tadeln wir die andere Person. Wenn wir jedoch wissen, wie wir auf andere achten können, dann werden sie gedeihen wie der Salat.
Weder hat Tadel eine positive Wirkung noch der Versuch, zu überreden oder gute Gründe und Argumente vorzubringen. Das ist meine Erfahrung. Einfach verstehen.
Thich Nhat Hanh
Man könnte auch sagen: einfach freundlich bleiben, sich zuwenden, hinschauen und verstehen. Wobei hier nicht ein Verstehen durch nüchterne Analyse gemeint ist, sondern ein tieferes Verstehen mit dem Herzen, das durch die innere Verbindung mit dem Gegenüber entstehen kann. So können wir alle etwas zu einer friedlicheren Welt beitragen. Und das sehr konkret.
ÜBUNG: Die Haltung der Freundlichkeit
- Verbinde dich innerlich mit der Haltung der Freundlichkeit: Sprich die Worte „freundlich sein“ mehrmals in dich hinein und lass sie im Innenraum der Seele klingen …
- Spür, was sich dadurch in dir spontan ausbreitet und lass dazu einen ganzkörperlichen Ausdruck, eine Gebärde, entstehen.
- Tauche in diese Gebärde ein und spüre, welche Empfindungen und Gefühle sich hier öffnen und welche inneren Bilder dazu entstehen. Gib dich ganz in diesen Seelenzustand hinein.
- Wie schaust du von hier aus auf dich selbst? Und wie schaust du auf andere Menschen in deinem Umfeld? Und wie aufs Leben als Ganzes?
- Mach jetzt einen kleinen Spaziergang: Gehe kontemplativ und betrachte alles, was dir begegnet, mit der Haltung der Freundlichkeit. Wie empfindest du das? Welche Begegnungen entstehen dabei?