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Achtsames Leben – Leicht und spontan – wie ein Vogelgezwitscher

von Richard Stiegler

18. Juli 2023

Abraham Maslow, einer der Gründerväter der Humanistischen Psychologie, benannte als ein Zeichen von innerer Reife die Fähigkeit, „spontan im Denken und Verhalten zu sein“. Zweifellos ist Spontaneität ein zentraler Ausdruck von innerer Freiheit.

 

Nichts ist schwer,
sind wir nur leicht.

Mechthild von Magdeburg

 

Wir alle kennen Momente, in denen wir entspannt sind und in unserer Mitte ruhen – unbeschwert von Vorstellungen und Absichten. Alles geht uns dann wie von selbst von der Hand. In einer großen Natürlichkeit entfaltet sich hier das Leben – leicht und spontan wie das Zwitschern der Vögel am Morgen.

 

Kontrolle als Gegenpol

Leider sind wir nicht immer so frei und natürlich. Wie oft bestimmen uns unterschwellig Kontrollmuster, die unsere Natürlichkeit einschränken? Wenn wir zum Beispiel gehemmt sind und uns die Angst oder die Scham besetzen, wagen wir nicht, unsere authentischen Gefühle zu zeigen. Wir sind dann wie in uns selbst eingesperrt und natürliche Impulse werden unterdrückt. Diese Art von Kontrolle schränkt unsere Freiheit und unsere sozialen Fähigkeiten stark ein.

Kontrollmechanismen, die uns unterschwellig und automatisch besetzen, sind ein Ausdruck des Egos. Zugrunde liegen meist tiefsitzende, unbewusste Identifizierungen und Muster, die unser Verhalten bestimmen und einschränken. Diese Identifikationen systematisch mithilfe unserer Bewusstheit aufzuspüren und davon freier zu werden, ist ein wesentliches Ziel von innerer Arbeit.

 

Ist Kontrolle immer falsch?

Doch ist jede Art von Kontrolle falsch und jede Art von Spontaneität erstrebenswert? Geht es darum, allen Gefühlen ungezügelt freien Lauf zu lassen? Wenn wir zum Beispiel gerade wütend auf eine Kollegin sind und sie beschimpfen oder ihr Vorwürfe machen, sind wir dann spontan? Oder wenn wir uns in einem euphorischen Zustand befinden, in dem wir alle Vorsicht außer Acht lassen, sind wir dann wirklich so frei, wie wir uns fühlen?

Auch Kinder sind sehr spontan. Sie schreien, wenn sie die Schokolade an der Kasse im Laden nicht bekommen. Sie toben, wenn die Mutter keine Zeit für sie hat und sie sind manchmal in der Begeisterung des Spiels vollkommen rücksichtslos. Kinder sind zweifellos spontan und darin sehr lebendig. Aber ist diese Art von Spontaneität wirklich erstrebenswert? Müssen nicht Kinder in ihrer Entwicklung lernen, Impulse bewusst zurückzuhalten und aufzuschieben? Offensichtlich gibt es auch eine Form der Kontrolle, welche nicht nur Ausdruck von unbewussten Egomustern ist, sondern unserer menschlichen Entwicklung dient.

 

Spontan oder impulsiv?

Spontaneität alleine ist noch kein Zeichen von Reife. Sie kann sogar sehr destruktiv für die Person selbst und verletzend auf deren Beziehungen wirken. Wir müssen daher unterscheiden lernen: zwischen einer Spontaneität, die konstruktiv und gesund ist, und einer Impulsivität, die sehr häufig destruktiv wirkt. Dabei ist der wesentliche Unterschied zwischen Spontaneität und Impulsivität das In-Verbindung-Sein.

Bei der Spontaneität sind wir mit uns selbst und auch mit unserer Umgebung in Verbindung. Wir ruhen in uns und sind offen. In diesem natürlichen Grundzustand können wir uns spontan entfalten und beziehen. Dadurch, dass wir auch mit der äußeren Situation und den beteiligten Personen im Kontakt sind, sind unsere Handlungen bezogen und annehmend. In der Impulsivität dagegen ruhen wir nicht in unserem natürlichen Grundzustand von Offenheit und Gelassenheit. Meist „reitet“ uns hier eine Emotion oder eine Vorliebe. Dadurch sind wir in einer negativen Bezogenheit und blenden meist die Bedürfnisse des Gegenübers aus. Doch nicht nur das: Auch eigene Anteile und Bedürfnisse werden dabei häufig übergangen.

 

Wenn wir wütend sind…

Wenn wir zum Beispiel jemandem wütend Vorwürfe machen, sehen wir typischerweise seine oder ihre Bedürfnisse nicht. Im Grunde gibt es hier kein Bewusstsein dafür, dass das Gegenüber eigene Bedürfnisse, Gefühle und Sichtweisen hat und haben darf. Wäre es da nicht heilsam, diese Wut bewusst kontrollieren zu können, damit ein Raum für gegenseitiges Sich-Zuhören und damit wahrhaftige Begegnung entstehen kann?

Oder denken wir an eine Situation, wo Menschen in großer Begeisterung und Feierlaune laut singend oder schreiend auf dem Balkon mit ihren Freund*innen feiern, ohne dabei auf die Nachbarschaft zu achten. Ist das wirklich ein Ausdruck von innerer Freiheit oder schlichtweg Rücksichtslosigkeit?

Spontane Impulse bewusst zu kontrollieren bedeutet nicht, dass wir keine Wut mehr fühlen dürfen oder die Emotion von Begeisterung unterdrücken müssen. Im Gegenteil. Wir dürfen wütend sein, und wir dürfen das auch mitteilen. Genauso dürfen wir begeistert sein und diesen Gefühlen in uns Raum geben. Etwas innerlich zuzulassen und sich darin authentisch zu zeigen oder etwas unkontrolliert auszuagieren, ist ein erheblicher Unterschied. Das Eine ist Ausdruck einer seelischen Reife und fördert unsere Bewusstheit. Das andere gründet in der Unbewusstheit und belastet zudem unsere Beziehungen.

 

Spontaneität und Bewusstheit

Spontaneität ist also nicht gleich Spontaneität und Kontrolle nicht gleich Kontrolle. Spontaneität stellt dann ein Zeichen von innerer Reife dar, wenn sie aus einem Grundzustand von Offenheit und Gelassenheit entsteht. Nur dann ist sie Ausdruck von innerer Freiheit und Natürlichkeit, und hat, da sie bezogen ist, eine konstruktive Wirkung. Andernfalls – in der Impulsivität – fühlen wir uns zwar lebendig und frei, aber die Wirkung spontaner Impulse, die nicht bezogen sind und in der Unbewusstheit wurzeln, wirken letztlich destruktiv.

Können wir also differenzieren zwischen automatischen Kontrollmustern, die uns unfrei machen, und einem bewussten Innehalten von Impulsen, welches uns letztlich zu einer größeren Bewusstheit und Reife verhilft? Können wir lernen, natürliche Spontaneität von reaktiver Impulsivität zu unterscheiden?

Der Weg der Bewusstheit wird hier zu einer höchst bedeutsamen, aber auch anspruchsvollen Lebenshaltung, die uns immer reifer – freier und bezogener – werden lässt. Vielleicht erleben wir dann immer öfter Momente, in denen wir leicht und spontan sind – wie das Zwitschern der Vögel am Morgen.

 

ÜBUNG: Sich von der Kontrolle befreien

  • Lass eine Situation auftauchen, in der du dich unfrei oder gehemmt fühlst?

  • Wie erfährst du in dieser Situation den Mangel an Spontaneität? (Lass zu diesem Erleben ein inneres Bild auftauchen und nimm einen Körperausdruck dazu ein)

  • Welches Gefühl, welchen Impuls oder welche Art von Lebendigkeit hältst du hier zurück?

  • Welche inneren Faktoren hindern dich daran, diese Art von Lebendigkeit zu leben? (z. B.: Angst, Scham, Urteile, Vorstellungen)

  • Welche Art von Erlaubnis oder Botschaft brauchst du, um dich frei fühlen zu können?

  • Sprich diese Erlaubnis oder Botschaft in dich hinein und erforsche, was sich dann im Erleben ausbreitet: Wie erfährst du das im Körper? Welcher Körperausdruck entsteht dazu? Welche Gefühle breiten sich aus? Welche inneren Bilder entstehen dazu? Lass dir Zeit, dieses Erleben tiefer auszukosten.

 

ÜBUNG: Impulse halten und mit Bewusstheit anreichern

  • Lass eine Situation auftauchen, in der du deine Gefühle impulsiv ausagiert hast. (z.B. eine Emotion, ein Urteil, ein Bedürfnis oder ein euphorisches Gefühl)

  • Wie war die Situation genau? Welche Wirkung hatte das Ausagieren für dich und die beteiligten Menschen?

  • Erforsche jetzt den Impuls genauer. Welche Emotion oder welcher Mangel verbirgt sich darin?

  • Gib diesem Gefühl in dir Raum und mach dir bewusst, dass es zutiefst menschlich ist, das zu fühlen. Wenn du dir diese Gefühle zugestehst und sie tief zu dir nimmst, was breitet sich dann in dir aus?

  • Frage dich jetzt, welche tiefere Sehnsucht verbirgt sich in diesem Gefühl?

  • Dann stell dir so konkret wie möglich vor, dass sich diese Sehnsucht erfüllt und spüre dabei, was sich dann im gegenwärtigen Erleben ausbreitet: Wie erfährst du das im Körper? Welcher Körperausdruck entsteht dazu? Welche Gefühle breiten sich aus? Welche inneren Bilder entstehen dazu? Lass dir Zeit, dieses Erleben tiefer auszukosten.

  • Dann betrachte nochmal die ursprüngliche Situation: Wie würdest du jetzt handeln, wenn du mit diesem inneren Erleben in Kontakt bist? Und welche Wirkung hätte das für dich und die beteiligten Menschen?