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Achtsames Leben – Krieg in Europa
von Richard Stiegler
Krieg in Europa
Viele Menschen sind erschüttert davon, wie Russland willkürlich und gewaltvoll die Ukraine besetzt und die Ländergrenzen Europas zu verschieben versucht. Ein neuer Krieg mitten in Europa! Wer hätte das gedacht, dass wir wieder in eine Zeit des Imperialismus zurückfallen, in der Staaten mit Panzern ihr Staatsgebiet erweitern wollen? In der das Eigeninteresse über das Miteinander von Staaten und das Völkerrecht gestellt wird?
Dabei hätten wir wahrlich genug Themen, welche die Regierungen weltweit herausfordern und die eine internationale Zusammenarbeit erfordern. Man denke nur an die Pandemie, die Klimakrise oder die Hungernden und Flüchtenden in aller Welt. Doch wieder einmal setzen sich Egoismen durch und halten die Welt in Atem. Welch ein trauriges Schauspiel!
Wie wir Krieg im Kleinen führen
Doch ist es wirklich so überraschend? Können wir nicht immer wieder auch im eigenen Leben beobachten, wie Konflikte im Kleinen entstehen und wie sie manchmal eskalieren? Da beansprucht ein Kollege plötzlich mit großer Vehemenz einen bestimmten Arbeitsplatz, obwohl er ihn seit einiger Zeit nicht mehr genutzt hat. Wer hat nun Recht? Der Kollege oder ich, der ich seit Wochen auf diesem Platz sitze?
Und kennen wir nicht auch hin und wieder Momente, in denen uns regelrecht eine „tierische Wut“ befällt? Das Aggressionspotential steigt in uns hoch und sehr schnell sind wir bereit, sämtliche Regeln des Respekts über Bord zu werfen und auf das Gegenüber verbal oder tätlich einzuschlagen. Wie schnell kann doch aus einem zivilisierten und Empathie-begabten Menschen ein wütendes Bündel werden, das nur noch sein Eigeninteresse vor Augen hat?
Auge um Auge macht die ganze Welt blind!
Mahatma Gandhi
Aggressionen und Ansprüche
Was steckt eigentlich hinter diesem Aggressionspotential? Und sind wir ihm wirklich ausgeliefert? Wenn wir Konfliktsituationen genauer betrachten, entdecken wir, dass den meisten destruktiven Konflikten eine bestimmte Dynamik zugrunde liegt: Wir glauben, ein Recht auf unser Bedürfnis oder unsere Sichtweise zu haben. In unserem Beispiel glauben sowohl der Kollege als auch ich ein Recht darauf zu haben, den Arbeitsplatz zu nutzen. Nun, wenn wir ein Recht darauf haben, dann haben wir auch einen Anspruch auf die Erfüllung oder auf die Anerkennung unserer Sichtweise. Und wenn wir einen Anspruch darauf haben, dann dürfen wir auch gewaltvoll unser Recht durchsetzen. Oder?
Diese Gedankenkette läuft natürlich nicht bewusst in uns ab, sondern verbirgt sich in jedem gefühlten Anspruch. Der Schritt, massiv und gewaltvoll unser „Recht“ durchzusetzen, ist dann nur noch sehr klein und entsprechend groß ist die Gefahr einer Verstrickung, also einer destruktiven Dynamik im Konfliktfall. Aber haben wir denn wirklich ein Recht auf unser Bedürfnis oder auf Anerkennung unserer Sichtweise?
Woher kommt der Tunnelblick?
Woher kommt überhaupt unser Anspruch? Wieso sind wir manchmal so unglaublich sicher, dass wir ein Recht auf die Erfüllung unserer Bedürfnisse haben oder auf die Anerkennung unserer Sichtweise? Wir pochen nämlich keinesfalls immer auf unser Recht. Wie oft haben wir zum Beispiel das Bedürfnis nach Nähe, können aber davon zurücktreten, wenn wir merken, dass unser Gegenüber gerade nicht dazu in der Lage ist? Und auch verschiedene Sichtweisen müssen nicht automatisch dazu führen, dass wir uns bekriegen und im Anschluss getrennte Wege gehen. Manchmal können wir es sogar als sehr bereichernd empfinden, wenn uns andere ihre Sichtweise schildern.
Was passiert also, dass es bei bestimmten Bedürfnissen oder Sichtweisen zu einer Verhärtung kommt, in der wir einen Tunnelblick bekommen und das Gegenüber nicht mehr sehen können? Die Wurzel dieser leidbringenden Dynamik ist unsere Neigung zur Identifikation. Identifikation bedeutet, dass wir die Offenheit für verschiedene Lebensperspektiven verlieren und davon überzeugt sind, dass es nur „eine Wahrheit“, nämlich die unsere, gibt. Je stärker wir identifiziert sind, desto tiefer ist unsere Überzeugung, dass nur eine Wahrheit existiert.
Wie etwas Teil unserer Identität wird
Natürlich gibt es Gründe dafür, dass wir uns mit manchen Sichtweisen und Bedürfnissen identifizieren und mit manch anderen nicht so sehr. Immer wenn etwas Teil unserer Identität geworden ist – wenn wir also das Gefühl haben, dass wir das sind –, fühlen wir uns zuinnerst bedroht, wenn es in Frage gestellt oder abgelehnt wird. Wenn wir das, was wir (scheinbar) sind, dann loslassen müssen oder es von anderen nicht anerkannt wird, kommt dies einer gefühlten Vernichtung gleich. Kein Wunder also, dass es zu massiven Selbstbehauptungsmechanismen kommt, als ob es an die Existenz gehen würde. In unserem Beispiel gesprochen könnte es sein, dass der Kollege aus einer Familie von Vertriebenen stammt und die Zugehörigkeit zu Orten für ihn eine besondere Bedeutung hat. Es ist eben weit mehr für ihn als ein Arbeitsplatz – es ist, was er ist.
Gott sei Dank können wir uns kraft unserer Bewusstheit aus dieser destruktiven inneren Dynamik befreien. Wir können bemerken, wann wir in eine Identifikation rutschen und daraus aussteigen. Der erste und vielleicht wichtigste Schritt dazu ist, dass wir erkennen, wann uns eine Identifikation gefangen hält. Dazu müssen wir eigentlich nur darauf achten, ob wir (mal wieder) einen Anspruch an andere oder ans Leben stellen. Wenn ja, können wir sicher sein, dass es hier ein Potential für innere Befreiung gibt.
ÜBUNG: Von Identifikationen zurücktreten
- Lass eine Situation auftauchen, die dich empört.
- Was genau empört dich? Und welche Gefühle löst die Situation aus? Gestatte dir alle Gefühle und Urteile, die hier auftauchen.
- Dann frage dich: Welcher Anspruch liegt diesen Gefühlen zugrunde?
Erforsche jetzt, welches innere Erleben dieser Anspruch erzeugt: Sprich diesen Anspruch in dich hinein und spüre, wie dein Körper spontan darauf reagiert. Nimm eine Gebärde ein, die diesem Anspruch entspricht und untersuche in welche innere Welt du hier gerätst.
- Was ist der Hintergrund zu diesem Anspruch? Welche Erfahrungen, Ängste oder grundlegende Überzeugungen liegen dem Anspruch zugrunde? Wie sehr prägt das deine Identität?
- Erlaub dir jetzt den Anspruch zur Seite zu legen und erforsche, was sich dann in dir spontan ausbreitet, wenn du von diesem Anspruch frei bist. Lass auch dazu eine Gebärde oder einen Gestaltausdruck auftauchen und tauche tiefer in das Erleben hinein. Welche innere Qualität entsteht hier? Lass dir Zeit diese neue Qualität auszukosten.
- Wie kannst du von hier aus auf die ursprüngliche Situation schauen?