Beitrag

Achtsames Leben – Eine verflixte Sache nach der nächsten

von Richard Stiegler

Wie sehr wünschen wir uns doch ein Leben, das in ruhigen Bahnen fließt. Doch wenn wir unseren Alltag betrachten, müssen wir zugeben, dass wir immer wieder herausgefordert sind, uns auf Lebenswendungen zu beziehen, um die wir nicht gebeten haben. Wie sagt Mark Twain? „Das Leben ist eine verflixte Sache nach der nächsten.“ Wie Recht er doch hat.

Doch nicht nur das äußere Leben fordert uns oft genug heraus. Auch die eigene Seele ist wie ein ungezähmter Fluss, der mal viel und mal wenig Wasser führt und sich nicht berechnen lässt. Wie oft sind wir davon überrascht, wie der Wellengang unserer Innenwelt ist? Doch damit nicht genug. Denn natürlich werden wir auch mit den inneren und äußeren Verwerfungen in unserem Umfeld konfrontiert. Auch die Menschen, mit denen wir zusammenleben und -arbeiten sind nicht immer in ihrer Mitte. Bei näherer Betrachtung ist das Ungeplante also die Normalität und nicht die Ausnahme.

 

Offenheit und Balance

Wenn wir davon ausgehen, dass das Ungeplante das Normale ist und nicht eine unerwünschte Ausnahme, dann macht es keinen Sinn mehr, mit den Lebensumständen zu hadern. Wir werden dann unsere „guten“ Pläne und Absichten nicht mehr als feste Zielmarken betrachten, sondern mehr als eine ungefähre Orientierung – eine Art flexibler Ahnung. Das verleiht uns eine große Offenheit, uns auf die tatsächlichen Lebenswendungen zu beziehen.

Vielleicht wie eine Kajakfahrerin, die durch Wildwasser paddelt. Hadert sie damit, wenn sich neue Stromschnellen auftun? Bestimmt nicht. Sie geht vielmehr vom Ungeplanten und Ungezähmten aus. Nur dadurch hat sie die Offenheit, sich auf jede neue Strömung zu beziehen und diese auszubalancieren. Denn diese Aufgabe bleibt bestehen. Das Ungeplante will ausbalanciert werden.

 

Eine neue Lebenshaltung

Nun ist es bereits anspruchsvoll genug, uns selbst immer wieder auszubalancieren. Aber genauso notwendig und anspruchsvoll ist es, Menschen in unserem Umfeld so zu begleiten, dass sie ihre Mitte wiederfinden können und sie nicht noch mehr in den Strudel ihrer Emotionen geraten oder wir uns mit ihnen verstricken. Wie kann ich also der Laune einer Kollegin begegnen, damit sie sich wieder beruhigt? Wie kann ich einen Menschen, mit dem ich mein Leben teile, in einer Krise so unterstützen, dass er sich seelisch wieder stabilisiert? Und wie bestmöglich ein krankes Kind begleiten?

Natürlich liegt es nicht in unserer Hand, ob eine andere Person ihre Mitte wiederfindet. Aber unser Verhalten kann das sehr begünstigen oder zusätzlich noch Öl ins Feuer der Emotionen gießen. Wäre es nicht für alle Beteiligten ein Segen, wenn es uns (und anderen) immer wieder gelänge, Menschen so zu begegnen, dass sie ihre Balance wiederfinden können? Vielleicht könnte es sogar zu einer sinnstiftenden Lebensaufgabe werden.

 

Die Bedeutung von Grundhaltungen

Sobald wir anerkennen, dass unvorhergesehene Ereignisse und innere Verwerfungen nicht nur ein Ärgernis, sondern natürliche Entwicklungen des Lebens sind, und dass das nicht nur uns selbst, sondern auch unser Umfeld betrifft, mit dem wir aufs Engste verwoben sind, geht es nicht mehr um die Abgrenzung gegenüber den inneren und äußeren Schwierigkeiten in unserem Umfeld, sondern darum, uns diesen Menschen und ihren Gefühlen zuzuwenden. Entscheidend ist jedoch, auf welche Weise wir das tun.

Wir alle haben bereits erlebt, wie heilsam die Wirkung ist, wenn uns jemand wirklich mit Offenheit, Interesse und Mitgefühl zuhört. Und bestimmt haben wir auch schon erlebt, dass das Gegenüber kein Ohr für uns hatte und zusätzlich selbst emotional auf uns reagierte. Die Haltung, mit der wir uns jemanden zuwenden, ist daher der Schlüssel dafür, welche Wendung das Gespräch nimmt und ob jemand seine Balance wiederfinden kann oder nicht. Wenn es uns gelingt, eine Haltung einzunehmen, die für die andere Person einen heilsamen Raum schafft, ist das nicht nur für sie hilfreich, sondern auch kraftsparend für uns selbst. Denn Offenheit benötigt sehr wenig Energie, Widerstand und Kampf dagegen sehr viel.

 

Spirituelle Grundhaltungen

Es macht also durchaus Sinn, sich mit heilsamen Grundhaltungen zu beschäftigen und diese mehr und mehr zu verinnerlichen – für mich selbst und meine Beziehungen. Es geht dabei um die Fähigkeit, uns tief in unserer Seele gründen zu können. Oder um grundlegende Haltungen – wie Annahme, Präsenz oder Freundlichkeit. Aber auch darum, was Wahrhaftigkeit, Humor oder die Kraft der Liebe in einer Begegnung bedeuten. Letztlich geht es um grundlegende spirituelle Haltungen, welche wir in der spirituellen Praxis einüben, und dann hoffentlich mehr und mehr im Alltag und vor allen Dingen in unseren Beziehungen verkörpern.

Den wenigsten Menschen ist bewusst, wie stark Grundhaltungen wirken. Sie sind die Basis für alle Ereignisse, die auf der Oberfläche des Lebens stattfinden. Wie erfährst du zum Beispiel eine schwierige Situation, wenn du dich offen beziehst und wie, wenn du dich dagegen stemmst? Und wie handelst du dann?

 

ÜBUNG: Die Grundhaltung des Empfangens

Schon in meinem Buch „Im Einklang leben“ habe ich 5 zentrale spirituelle Grundhaltungen beschrieben und ihre Relevanz für unser alltägliches Leben dargestellt. Im neu erschienenen Kartenset „Die Kunst des Begleitens“ beschreibe ich in kurzen lyrischen Texten 40 grundlegende Aspekte für die achtsame Begleitung von Menschen. Jeder Karte verdeutlicht auf eine verdichtete Weise eine zentrale Grundhaltung und lädt so ein, die Worte in sich klingen zu lassen und die jeweilige Haltung zu kontemplieren und zu verinnerlichen.

 

Hier der Text der Karte mit Nummer 4:

Empfangen
Empfangen ist grundlegender als Handeln.
Zuhören wichtiger als Sprechen.

Lehne dich zurück.
Empfange das Geschehen.

Wenn du einem anderen Menschen nicht zuhören kannst,
was hast du dann zu sagen?
Du sprichst ins Leere –
ohne echte Bezugnahme.

Wenn du die Not eines Menschen
nicht in dich aufnehmen kannst,
wird er sich alleingelassen fühlen,
ganz gleich, welche Unterstützung du anbietest.

Die Erde empfängt die
abgefallenen Blätter.
Sie nimmt alles in sich auf
und verwandelt es zu neuem Leben.
Lerne von der Erde,
wodurch Heilung geschieht.

Ohne Bezugnahme kein Kontakt.
Ohne Zuhören kein Verstehen.
Ohne Offenheit nichts Neues.
Ohne Empfänglichkeit keine Verwandlung.

Lehne dich zurück.
Empfange das Geschehen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert