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Achtsames Leben – Die Kunst, Übergänge zu gestalten
von Richard Stiegler
Vor einer Woche fand in Deutschland die Bundestagswahl statt. Unabhängig davon, ob man einen Wechsel der Regierung begrüßt oder nicht, es ist zutiefst natürlich, dass Dinge zu Ende gehen und Neues entsteht. Ob bei gesellschaftlichen Prozessen oder im persönlichen Leben – das Leben besteht aus einer Vielzahl von kleinen und großen Übergängen. Wer sich dagegen sträubt, wird von den Ereignissen überrollt. Und wer sich keine Zeit dafür nimmt – vielleicht aus der Angst heraus, etwas zu versäumen –, wird im ständigen Wechsel der Situationen verloren gehen.
Kennen wir nicht alle die Situation, dass wir innerlich noch so mit dem Alten beschäftigt sind, dass wir noch gar nicht für das Kommende aufnahmefähig sind? Ob im Konzert, bei Freunden oder im Teamgespräch, nur wenn wir uns für die Übergänge Zeit lassen, entsteht ein Raum der Offenheit. Erst dann wird es uns gelingen, in der neuen Situation von Anfang an anwesend zu sein. In gewisser Weise könnte man daher sagen: Leben ist die Kunst, Übergänge zu gestalten.
Von den kleinen und großen Übergängen
Ein alter Mann wurde einmal gefragt, warum er keine Möbel habe. Worauf er antwortete: „Ich bin auf der Durchreise.“ So wie die Jahreszeiten kommen und gehen ist immer alles im Wandel. Daher sind wir alle auf der Durchreise und bewegen uns von Übergang zu Übergang. Da gibt es große Lebensabschnittsübergänge wie der Übertritt ins Berufsleben, der Beginn einer Elternschaft, der Verlust einer langjährigen Beziehung oder der Übergang in die Rente. Da sind aber auch die vielen kleinen Übergänge im Laufe der Woche, wenn wir morgens mit der Arbeit beginnen und abends wieder heimkommen, oder wenn wir jemanden besuchen. All diese kleinen und großen Übergänge fordern von uns, dass wir uns öffnen für das Kommende, um wirklich anwesend zu sein.
Unabhängig davon, ob es ein kleiner Situationswechsel im Tagesverlauf ist oder ob ein neuer Lebensabschnitt beginnt, lassen sich bei Übergängen drei Phasen beobachten. Nur die Länge der Phasen kann sehr unterschiedlich sein – von wenigen Minuten bis hin zu vielen Monaten.
Phase 1: Abschließen und Verdauen
Übergänge kann man auch „Endanfänge“ nennen. Ein Begriff, der deutlich macht, dass ein Übergang immer mit dem Ende des Vorhergegangenen beginnt, also mit dem Abschließen. Der erste Schritt, um einen Übergang achtsam zu gestalten, besteht darin, das Vorhergegangene sorgfältig äußerlich und innerlich abzuschließen. Das ist nicht selbstverständlich. Wir neigen manchmal dazu, Dinge mit großer Sorgfalt und Liebe zu beginnen, zum Beispiel wenn wir ein Festmahl für Freunde ausrichten. Aber schenken wir dem Ende und dem Aufräumen die gleiche Sorgfalt? Stürmen wir abends aus dem Büro oder räumen wir den Arbeitsplatz erst in aller Ruhe auf?
Etwas sorgfältig aufzuräumen und abzuschließen hat zwei Funktionen: Erstens entsteht dann äußerlich keine Unordnung, und zweitens können wir dabei das Geschehene innerlich verdauen und integrieren. Das ist wesentlich, denn alles, was wir erfahren, muss seelisch verdaut werden. Das gilt für Schwieriges genauso wie für Erfreuliches. Dieser innere Verdauungsprozess geschieht als Nebeneffekt bei einfachen Tätigkeiten, die uns erden, wie zum Beispiel Aufräumen, Putzen, im Garten arbeiten oder Spazierengehen in der Natur. Manchmal ist es aber auch wichtig, uns dem Erlebten nochmal bewusst zuzuwenden, damit es integriert werden kann. Das kann durch einen einfachen Monolog geschehen, durch einen Eintrag im Tagebuch oder durch die Praxis des Inneren Erforschens.
Phase 2: Zwischenräume
Wenn wir etwas sorgfältig abgeschlossen haben, ist dann schon Zeit für das Neue? Kommt nach der Ernte im Herbst bereits der Frühling? Wenn wir uns dem Kommenden nicht vorschnell zuwenden, öffnet sich nach dem Abschließen ein Zwischenraum – ein Niemandsland, das sich nicht mehr im Alten und noch nicht im Neuen befindet. Hier sind wir zunächst etwas orientierungslos – eben dazwischen. Wen wundert es da, dass wir dazu neigen, diesen Zwischenzustand zu übergehen oder ihn mit Ablenkungen zu füllen?
Dabei verpassen wir aber etwas sehr Wesentliches, denn hier ist unsere Aufmerksamkeit ungerichtet und frei, so dass das Tor zur reinen Präsenz weit offensteht. Solange wir mit einer Sache beschäftigt sind, ist unsere Aufmerksamkeit gebunden und wir spüren in der Regel uns selbst und den Raum des SEINs in der Tiefe nicht. Erst hier im Zwischenraum – dort, wo wir einfach nur sein können – kann man sich innerlich sinken lassen an einen Ort, an dem eine unbedingte Präsenz lebt. Auf diese Weise können wir heimkommen in der Stille, unabhängig von allen äußeren Bedingtheiten. Können wir uns immer wieder an das SEIN in der Tiefe anbinden, bevor wir wieder an die Oberfläche unseres Lebens zurückkehren und dort handeln und uns beziehen?
Gründe dich tief,
bevor du handelst.
Sei erstmal da. Tu nichts.
(aus: Richard Stiegler, „Die Kunst des Begleitens“)
Phase 3: Sich bereit machen
Wenn wir in der Tiefe angekommen sind, wird es sehr leichtfallen, uns auf das Neue einzulassen. Unsere Seele stimmt sich typischerweise von selbst darauf ein. Können wir nicht bereits im Vorfeld eines wichtigen Termins bemerken, wie unser Geist damit beschäftigt ist und schon der Vorabend und die Nacht davor davon eingefärbt sind?
Sich Einstimmen und Bereitmachen benötigt Zeit und kann innerlich wie äußerlich stattfinden. Äußerlich bereiten wir einen Beginn mit Ruhe und Sorgfalt vor, kommen rechtzeitig und gestalten den Raum für das Kommende. Wenn wir zum Beispiel den Raum für ein Meeting liebevoll vorbereiten, stimmen wir uns selbst darauf ein und die Teilnehmenden fühlen sich von Anfang an willkommen. Genauso können uns auch Rituale unterstützen, uns bereit zu machen. Denken wir zum Beispiel an die Christenheit, die sich durch die Fastenzeit auf das Osterfest vorbereiten. Sich Einstimmen lässt in uns eine besondere Kraft entstehen – eine Präsenz, die dann im Neuen von Anfang an wirkt und sich in unserem Erleben und in unseren Handlungen entfaltet. Dann ist unsere Seele bereit und das Kommende kann beginnen.
ÜBUNG: Übergänge bewusst gestalten
- Was sind wichtige Übergänge in deinem Tages- oder Wochenablauf?
- Gibt es zurzeit große Übergänge in deinem Leben oder stehen welche in nächster Zeit an?
- Betrachte jetzt in Ruhe nacheinander wichtige kleine oder große Übergänge deines Lebens und deines Alltags: Wie viel Zeit nimmst du dir für die drei Phasen –für das Abschließen, für den Zwischenraum und fürs Einstimmen aufs Neue?
- Welche typischen Muster kennst du von dir, die bei Übergängen aktiv sind? Wo bist du zum Beispiel gefährdet, eine Phase zu überspringen? Welche Wirkung haben diese Muster?
- Wie könntest du bewusst und konstruktiv diesen Übergang gestalten? Wofür müsstest du dir Zeit nehmen? Was müsstest du wertschätzen? Welche Elemente wären für eine Neugestaltung wichtig? Was würde dich dabei unterstützen? Worauf müsstest du besonders achten? Wie könntest du sicherstellen, dass du dich im entscheidenden Moment, an einen neuen Umgang mit dem Übergang erinnerst?