Beitrag

Achtsames Leben – Woran wir wachsen

von Richard Stiegler

Viele Menschen blicken derzeit verunsichert in die Zukunft. Wohin wird die Reise gehen? Viele Selbstverständlichkeiten, wie der Frieden in Europa, die Partnerschaft mit Amerika und die Zurückhaltung Deutschlands in Rüstungsangelegenheiten, haben sich fast über Nacht dramatisch verändert. Dabei sind die anderen Probleme im Land und in der Welt nicht kleiner geworden. Die Erderhitzung schreitet schneller voran als gedacht, die Sozial- und Gesundheitssysteme ächzen, die Wohnungsnot nimmt zu und die extreme Rechte feiert überall Erfolge. Möchte man da nicht manchmal die Decke über den Kopf ziehen?

Natürlich ist es verständlich, dass uns diese Entwicklungen ängstigen und auch Gefühle von Betroffenheit und Überforderung auslösen. Doch wir sollten nicht vergessen, dass wir an Schwierigkeiten im Kleinen wie im Großen auch wachsen und sich dadurch neue Möglichkeiten ergeben.

„Die Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Max Frisch


Glück oder Unglück?

Alle Menschen wünschen sich günstige und verlässliche Lebensumstände, die den eigenen Vorlieben entsprechen. Glück erscheint uns als die Erfüllung unserer Vorstellungen und Wünsche. Wie viel Energie wenden wir dafür auf, unsere Lebensziele zu erreichen? Und wie sehr frustriert es uns, wenn es nicht gelingt?

Wenn wir jedoch auf unser Leben zurückschauen, haben gerade die schwierigen Zeiten eine Intensität, die wir manchmal in den „glücklichen“ Phasen unseres Lebens vermissen. Rückblickend können wir erkennen, dass wir nirgends so als Mensch gereift sind, als dort, wo es nicht in unserem Sinne gelaufen ist und wir von den Umständen zutiefst herausgefordert wurden. Könnte es also sein, dass das sogenannte Unglück auch ein Glück ist?


Ein gesunder Nährboden

Leider wachsen Menschen nicht immer an Schwierigkeiten. Manchmal zerbrechen sie daran und ziehen sich vom Leben zurück, indem sie sich in Isolation, in Resignation, Zynismus oder Süchten verlieren. Wenn also nicht genügend gesunde Ressourcen in einem Menschen existieren (heute spricht man von Resilienz), kann er oder sie darauf auch nicht in schwierigen Momenten zurückgreifen und sich neu ausrichten. Dann wird eine Überforderung übermächtig und das psychische System bricht zusammen.

Aus diesem Grunde ist es für eine gesunde Entwicklung unerlässlich, dass wir einen guten und stabilen Nährboden erfahren (haben), der es uns ermöglicht, unsere natürliche Stärke und Stabilität zu entfalten. Wie ein Baum, der in einem guten Erdreich tief verwurzelt ist, auch starken Stürmen trotzen kann, so wird eine Seele, die ein gutes und nährendes Umfeld erfahren hat, herausfordernde Situationen wie Schicksalsschläge, Krankheiten und Beziehungskrisen letztlich konstruktiv verarbeiten können.


Die Aufgabe, einen guten Boden schaffen

Wie wir wissen, wird die Basis für einen gesunden, seelischen Nährboden in der Kindheit gelegt. Und natürlich haben wir heute keinen Einfluss mehr darauf, wie unsere Kindheit verlaufen ist und in welchem Familiensystem wir aufgewachsen sind. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die innere Resilienz nicht nur eine Frage der Vergangenheit ist. Das wäre viel zu kurz gegriffen. Denn entscheidend für einen nährenden Seelenboden ist letztlich die Art, wie wir heute unser Leben gestalten. Und dafür können wir den Eltern nicht die Verantwortung zuschieben. Das liegt zu einem Großteil in unseren eigenen Händen.

Wie leben wir heute unser Leben? Haben wir Beziehungssysteme, in denen wir uns grundsätzlich gesehen und angenommen fühlen? Achten wir auf körperlichen und seelischen Ausgleich? Pflegen wir Räume der Entspannung und haben wir Auszeiten, in denen eine tiefe Verbindung nach innen entstehen kann? Kennen und nutzen wir regelmäßig Praxisformen (wie das Innere Erforschen), die uns helfen, Erlebtes zu verdauen und die gesunden Ressourcen der Seele aufzusuchen und zu nähren? Gestehen wir uns Überforderung und Ohnmachtspunkte ein und holen uns Unterstützung, wenn wir alleine gerade nicht mehr weiterkommen?

Das alles sind zentrale Aspekte, wie wir heute für einen seelischen Nährboden Verantwortung übernehmen können und dadurch immer stabiler und stärker im Leben stehen, unabhängig davon, wie die Winde und Stürme des Lebens gerade über uns hinwegziehen.

 

„Ich habe dir keinen Rosengarten versprochen“

Doch bei allem, was wir für seelische Ausgeglichenheit tun können, müssen wir uns klar machen, dass das Leben kein Rosengarten ist. Romantische Vorstellungen sind fehl am Platz und können sogar dazu führen, dass wir uns beleidigt zurückziehen, wenn unser Kartenhaus, das wir so mühsam aufgebaut haben, mal wieder einstürzt, oder wenn wir unvermittelt einen Kinnhaken bekommen. Wie viel hilfreicher ist es doch, schwierige Momente des Lebens als etwas zu sehen, das uns herausfordert, stärker zu werden und das Gute in uns wachsen zu lassen.


Tommy und Annika ängstlich zu Pippi Langstrumpf:
„Der Sturm wird immer stärker.“
Darauf Pippi:
„Das macht nichts. Ich auch!“
(Astrid Lindgren)


Sobald wir den Schwierigkeiten des Lebens mit einer positiven Einstellung gegenübertreten, verlieren sie ihre Bedrohlichkeit und wir können sie nutzen, um innere Qualitäten zu trainieren. Kann ein Boxer ohne einen Sparringspartner seine Stärke entfalten? Wird ein Tier im geschützten Umfeld eines Zoos seine natürlichen Fähigkeiten gewinnen, in freier Wildbahn zu überleben? Wir brauchen einen guten Nährboden und Herausforderungen, an denen wir reifen und wachsen können. Nur so werden wir als ganzer Mensch im besten Sinne veredelt und mit der Zeit in eine Reife hineinwachsen, die uns Würde und Schönheit verleiht – wie ein alter Baum, der mit all seinen Wunden nach vielen Stürmen still und majestätisch in der Abendsonne steht.


ÜBUNG: Nährboden und Herausforderungen

Betrachte zunächst, ob und wie du aktuell für einen guten seelischen Nährboden sorgst:

  • Hast du Beziehungen, in denen du dich grundsätzlich gesehen und angenommen fühlst? Wie könntest du solche Beziehungen mehr pflegen?
  • Achtest du auf körperlichen und seelischen Ausgleich? Pflegst du Räume der Entspannung und hast du genügend kleine und große Auszeiten
  • Nutzt du regelmäßig Praxisformen (wie das Innere Erforschen), die dir helfen, Erlebtes zu verdauen und die gesunden Ressourcen der Seele zu nähren?
  • Gestehst du dir Gefühle von Überforderung und Ohnmacht ein? Holst du dir Unterstützung, wenn du alleine nicht weiterkommst?


Erforsche einen gesunden seelischen Nährboden:

  • Lass ein inneres Bild auftauchen, in dem ein Baum tief in einem guten Boden wurzelt und schau dir zunächst diese Szene in Ruhe an.
  • Dann wechsle die Perspektive und stell dir vor, dieser Baum zu sein. Nimm einen Gestaltausdruck dafür ein. Spür, wie deine Wurzeln tief ins Erdreich dringen und du dort verankert bist und alle Nährstoffe bekommst. Spür wie es sich anfühlt, tief gegründet zu sein und erkunde, welche Empfindungen und Gefühle sich dabei im ganzen Körper und in der Seele ausbreiten.
  • Dann stell dir vor, dass starke Winde aufkommen und dich herausfordern. Wie erfährst du diese Winde, wenn du tief gegründet bist?


Erkunde, wie die innere Haltung dein Erleben zu einer aktuellen Schwierigkeit verändert:

  • Lass eine Sache auftauchen, die du derzeit als schwierig oder herausfordernd erlebst: Was ist es genau und welche Gefühle löst es aus?
  • Was ist deine Vorliebe oder deine Vorstellung, die durch diese Situation herausgefordert wird? Wie schaust du auf die Situation und wie empfindest du sie, wenn du an deiner Vorstellung festhältst, und an dem Gefühl, einen Anspruch darauf zu haben?
  • Leg jetzt alle Vorstellungen und Ansprüche zur Seite. Das Leben ist, wie es ist. Wende dich jetzt ganz neu und unvoreingenommen dieser schwierigen Situation zu und frage dich: Welche seelische Eigenschaft kann in dir durch diese Herausforderung heranreifen? Welche Qualität wird in dir trainiert?
  • Tauche jetzt in diese seelische Qualität hinein und erforsche sie von innen her: Was breitet sich innerlich in Körper und Seele aus, wenn du damit in Kontakt bist? Wie schaust du auf die äußere Schwierigkeit, wenn du in dieser Qualität verankert bist?