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Achtsames Leben – Das hohe Gut der Unerreichbarkeit
von Richard Stiegler
Der große Sufimystiker Rumi schreibt an einer Stelle über die Sehnsucht nach innerer Freiheit:
Ich wünschte, ich könnte aus dieser Persönlichkeit heraushüpfen. Dann würde ich mich daneben setzen. Zu lange habe ich an einem Ort gelebt, an dem ich erreichbar bin.
Rumi
Wenn diese Zeilen vor 800 Jahren gestimmt haben, dann stimmen sie heutzutage – in Zeiten von Emails und Social Media – noch viel mehr. Rund um die Uhr sind wir erreichbar und permanent können wir uns beschäftigen und effektiv sein.
Erreichbarkeit ist grundsätzlich eine große Errungenschaft und wir sollten dafür dankbar sein. Es kann aber auch zu einer großen Einschränkung werden, wenn wir uns durch Medien zuschütten, ja manchmal sogar regelrecht versklaven lassen. Nährender Kontakt entsteht nicht durch soziale Netzwerke und durch die Menge an Kontakten, sondern durch die Qualität unserer Verbindungen – nach innen zu uns selbst und nach außen zu einem realen Gegenüber.
Leere und Bedeutungsverlust
Wer nicht wagt, den Bildschirm auszuschalten und sich unerreichbar zu machen, um die Pause, die dann entsteht, auszuhalten, verpasst den kostbaren Augenblick voller Lebendigkeit. Allerdings kann es sein, dass es sich im ersten Moment nicht gerade lebendig anfühlt, wenn wir auf Medien (gleich welcher Art) verzichten.
Zunächst werden wir nämlich mit einer Leere und einer Bedeutungslosigkeit konfrontiert, die sehr unangenehm sein kann. Es kann sich ein inneres Loch auftun, wenn wir uns nicht mehr ablenken, die Emails nicht mehr bedienen und nicht mehr im Mittelpunkt unserer Netzwerke stehen. Wer sind wir dann noch?
Innere Freiheit
Doch wenn wir den entstandenen Bedeutungsverlust und die Leere ertragen, kann mit der Zeit ein tieferer Kontakt nach innen entstehen. Ein Kontakt, der frei von persönlicher Wichtigkeit ist, aber voll von Lebendigkeit und Unmittelbarkeit. Im Zentrum steht dann nicht mehr unser Ich, sondern eine tief empfundene Freiheit, in der wahrhaftige Begegnung mit dem eigenen Inneren und dem realen äußeren Leben stattfinden kann.
Aus diesem Grund ist die Unerreichbarkeit heute das vielleicht größere Gut als die Erreichbarkeit. Wir sollten sie schätzen und innere Schutzzonen in unserem Leben einrichten, in denen wir ungestört und frei von äußeren Einflüssen unser Leben im eigenen Rhythmus entfalten können. Das sind Inseln der Freiheit, die für Körper und Seele zutiefst gesund und nährend sind. Zudem kann sich hier eine Erfüllung einstellen, die durch keine Geschäftigkeit und keine mediale Unterhaltung erreichbar ist.
Erfüllung erfährt nur, wer frei von Geschäftigkeit ist. Die Vielbeschäftigten können innere Fülle schwer erlangen.
– Lao Tse