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Achtsames Leben – Auge um Auge

von Richard Stiegler

In den letzten Wochen haben uns wieder einmal erschütternde Nachrichten aus dem Nahen Osten erreicht. Wie kann es sein, dass Menschen Frauen, Alte und sogar Kinder grausamst töten? Warum hört diese unselige Gewalt, die sich Menschen seit jeher antun, nicht auf? Und ist es wirklich zwingend notwendig, dass man auf eine Aggression mit großer Härte antwortet?

 

Auge und Auge – und die ganze Welt wird erblinden.

Mahatma Gandhi

 

Auge um Auge ist die uralte Logik einer Gewaltspirale. Dabei geht es nicht nur um die niedrigsten aller Beweggründe – Hass und Rache, sondern um eine tieferliegende Dynamik, die den meisten destruktiven Konflikten zugrunde liegt – die Opfer-Täter-Dynamik. Diese spielt nicht nur in den großen Konflikten zwischen Völkern eine wichtige Rolle, sondern auch in zwischenmenschlichen Kontakten – zwischen Ehepartner/innen, Nachbar/innen und Kolleg/innen. Kennen wir nicht alle destruktive Konflikte aus unserem Beziehungsleben, in denen wir selbst verhärten?

 

Opfergefühle und ihre Macht

Am Beginn dieser Dynamik fühlen wir uns vielleicht verletzt, bedroht oder ungerecht behandelt. Dadurch entsteht ein Opfergefühl. Ob wir wirklich ungerecht behandelt oder verletzt wurden oder ob es nur unsere Sicht auf die Situation ist, ist dabei vollkommen nebensächlich, denn entscheidend für die weitere Opfer-Täter-Dynamik ist unser Gefühl, nicht die tatsächliche Situation.

Dass die Gefühle und unser Umgang damit, aber nicht die Umstände entscheidend sind, können wir daran ermessen, wie verschiedene Menschen auf ein und denselben Anlass sehr unterschiedlich reagieren. Denken wir an Menschen, die von ihrem/r Partner/in verlassen wurden. Ist es nicht erstaunlich, wie hier manche der ehemaligen Partner/innen nach einer Trauerphase freundschaftlich verbunden bleiben können, andere aber einen schrecklichen Rosenkrieg beginnen? Auch bei Israelis und Palästinensern gibt es ähnliche Beispiele: Manche Trauernde, die Angehörige in diesem blutigen Konflikt verloren haben, verhärten in ihrem Schmerz und kennen nur noch Kampf und Rache. Andere jedoch setzen sich nach so einem schmerzlichen Verlust für Friedensinitiativen und Völkerverständigung ein.

 

Wie aus Opfern Täter werden

Um die Macht der Opfer-Täter-Dynamik tiefer zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass das Opfergefühl nicht einfach nur ein schmerzliches Gefühl ist. Es kann sich zu einer Opferidentität verdichten, die dann Menschen von innen her – manchmal ein Leben lang – bestimmt. Anders gesagt, es kann zu einer starken Identifizierung mit dem Gefühl, ein Opfer zu sein, kommen. Ein Beispiel dafür sind Menschen, die in ihrer Kindheit stark traumatisiert wurden und deren Verwundung zu einem grundsätzlichen Lebensmuster gerinnt.

Immer aber, wenn es zu einer Identifikation kommt, entsteht unbewusst ein Anspruchsdenken, das wiederum sehr schnell in eine Täter-Dynamik münden kann. Wir können uns das bildhaft so vorstellen: Wenn ich in „meinem Haus“ (als Metapher für die Ich-Identität) angegriffen werde und dort jemand ein Fenster zertrümmert, dann gibt es eben nicht nur das Gefühl der Verletzung, sondern auch die Vorstellung, ein Recht auf Unversehrtheit zu haben. Damit geht eine Empörung über den Angriff einher und die vermeintliche Berechtigung, mich verteidigen zu dürfen – also zurückzuschlagen oder die Beziehung zum „Angreifer“ zu kappen. Beide Reaktionsmuster haben eine ungeheuer aggressive und machtvolle Wirkung, obwohl sich die Person selbst vielleicht innerlich dabei ohnmächtig und verletzt fühlt.

 

Der Akt der Verteidigung ist schon ein Angriff.

Masanobu Fukuoka

 

Die meisten Aggressionen im Kleinen wie im Großen werden aus dem Opfergefühl heraus begründet und dem Anspruch daraus, sich zur Wehr setzen zu dürfen. Sogar die großen Diktatoren dieser Welt sehen sich als Opfer und begründen damit ihre Grausamkeiten.

 

Den Schmerz würdigen

Gibt es einen Weg, um aus der Opfer-Täter-Dynamik auszusteigen und den Leidenskreislauf zu beenden? Ja, das gibt es. Doch es ist ein anspruchsvoller Weg, der uns viel abverlangt, uns letztlich jedoch eine große Freiheit bringt.

Der erste Schritt auf diesem Weg ist, dass der ursprüngliche Schmerz, der sich in der Opferidentität verbirgt, anerkannt und gewürdigt wird. Es geht dabei nicht um die äußere auslösende Situation, sondern um eine Hinwendung zum eigentlichen Schmerz in der Person – also zum inneren Erleben.

 

Wenn dein Haus angezündet wird, dann kümmerst du dich nicht zuerst um den Brandstifter, sondern um dein Haus.
Genauso ist es mit deiner Wut und deinem Schmerz.
Wenn dich jemand verletzt, kümmere dich liebevoll um deine Verletzung und nicht um denjenigen, der sie ausgelöst hat.

Thich Nhat Hanh

 

Bevor sich eine Person in ihrem Gefühl nicht gesehen und gewürdigt fühlt, kann sie innerlich nicht ihre Schutzhüllen ablegen und weich werden. Das ist der erste Schritt der Heilung. Bei einzelnen Menschen kann dies durch eine einfühlsame Begleitung geschehen. Zwischen Völkern können öffentliche Bekenntnisse wie z.B. der Kniefall von Willy Brandt in Warschau oder das Holocaust-Denkmal zu Ehren der Opfer im dritten Reich viel zur Versöhnung beitragen.

 

Verantwortung übernehmen und frei werden

Der zweite und entscheidende Schritt, um aus dem Opfergefühl auszusteigen, ist jedoch noch viel anspruchsvoller. Es braucht die Bereitschaft, dass wir die Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen und die äußeren Auslöser für unseren Schmerz aus der Verantwortung entlassen. Nur dann werden wir wirklich frei, unabhängig davon, was wir erlebt und durchlitten haben. Es gibt immer wieder Zeugnisse von Menschen, die schwerste Misshandlungen erlebt haben und denen es möglich war, keine Opferidentität auszubilden und so aus dem Leidenskreislauf der Opfer-Täter-Dynamik aussteigen konnten.

Dazu aber braucht es eine radikale Hinwendung zu unserer Verwundung. Ja, mehr noch: Wir müssen dem schmerzlichen Erleben und unserer Zerbrechlichkeit bedingungslos zustimmen und es zu uns nehmen. Das bedeutet gleichzeitig, einen vollkommenen Verzicht auf alle Ansprüche, Ideale und Vorstellungen, die unsere Opferidentität aufrechterhalten. Denn, was aus einer Verwundung eine Opferidentität macht, ist nicht der Schmerz, sondern die Abwehr, welcher letztlich eine Identifikation mit Vorstellungen, Ansprüchen und Idealen zugrunde liegt. Nur wenn wir bereit sind, diese Vorstellungen und Ansprüche beiseite zu legen, können wir uns aus dem Leidensmuster einer Opferidentität befreien und unser Herz wieder für alle Menschen öffnen – sogar für diejenigen, die uns (vermeintlich) Böses zugefügt haben.

 

Krieg beginnt, wenn wir unser Herz hart werden lassen. Daher ist die wahre Arbeit eines Friedensstifters: inmitten einer unangenehmen Situation den Punkt der Verletzlichkeit und Zartheit zu finden und dabei zu verweilen. Sind wir fähig, bei dieser Verletzlichkeit und diesem zarten Herzen zu verweilen, dann kultivieren wir die Samen des Friedens.

Pema Chödren

 

ÜBUNG: Aus dem Opfergefühl aussteigen

  • Erinnere dich an eine Situation, welche ein Opfergefühl in dir ausgelöst hat. (Vielleicht hast du dich ungerecht behandelt gefühlt, oder du wurdest beschämt oder verletzt, oder…) Was genau hat dich verletzt?

  • Welche Gefühle tauchen auf, wenn du dir diese Situation vergegenwärtigst? Was geschieht dabei spontan im Körper? Visualisiere die Verwundung phantasievoll.

  • Dann mach dir bewusst: „Was immer du hier fühlst, du darfst diese Gefühle und diese Verwundung haben. Es ist zutiefst menschlich, verletzlich zu sein.“ Spür, was sich innerlich ausbreitet, wenn die Verwundung und deine Gefühle dazu wirklich da sein dürfen – wenn sie angenommen und gewürdigt werden?

  • Betrachte jetzt im nächsten Schritt, welche inneren Ansprüche, Vorstellungen und Ideale dein Opfergefühl erzeugen und aufrechterhalten.

  • Untersuche nochmal in Achtsamkeit, welche Wirkung diese Vorstellungen, Ansprüche und Ideale auf dich haben, wenn sie dich bestimmen: Welche Gefühle können sie auslösen? Lass dazu eine Gebärde auftauchen. Schlüpf in diese Gebärde hinein und erkunde, in welche innere Welt du dann kommst…

  • Atme jetzt tief durch und lege ganz bewusst alle Vorstellungen, Ansprüche und Ideale, die hier wirken, zur Seite… Dann spür, was sich in dir dadurch ausbreitet. Lass dazu wieder eine Gebärde auftauchen und schlüpf hinein. Welche Qualität breitet sich hier in deiner Seele aus, wenn du frei von allen Vorstellungen bist? Wie gehst du dann mit deiner Verwundung um? Und wie lebst du dann?

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