Beitrag

Achtsames Leben – Auf dem Jahrmarkt der Spiritualität

von Richard Stiegler

Was wird nicht alles versprochen auf dem großen, bunten Jahrmarkt von Esoterik und Spiritualität? Erfolg und Gesundheit durch Meditation, Erfüllung unserer Wünsche durch positives Denken, Spontanheilung durch Schamanismus oder Beeinflussung von Quanten, Fernheilung durch Gedankenkraft, Glückseligkeit durch Erleuchtung und der Weltfrieden durch gemeinsame Meditation. Klingt das nicht verführerisch?

Gibt es nicht unzählige Methoden und Wege, um diese Versprechungen zu erreichen? Von verschiedenen Formen des Yoga bis zum schlichten Sitzen im Zen, vom Positiven Denken bis zur Transpersonalen Psychologie, von Tarot-Legen bis zur Selbsterkenntnis durch Bewusstheitsarbeit. Wer kann da den Überblick behalten? Zumal manchmal esoterische Vorstellungen und spirituelle Praxisformen wild durcheinandergemischt werden. Wie soll man sich da orientieren können?

 

Über das Ich und das, was größer ist

Vielleicht ist es darum hilfreich, sich auf die grundlegenden spirituellen Erkenntnisse zu besinnen. Dann können wir nämlich deutlicher die Spreu vom Weizen trennen und laufen nicht Gefahr, dubiosen Versprechungen auf den Leim zu gehen.

Beginnen wir mit der zentralen Einsicht auf dem spirituellen Weg: Immer tiefer realisieren wir, dass nicht unsere Person im Mittelpunkt steht (bis hin zu Erfahrungen, in denen sich das Ichgefühl komplett auflöst und als Illusion entlarvt wird), sondern dass es etwas Größeres gibt, in das unser kleines Leben eingebettet ist. Wie wir das Größere nennen – ob Seinsgrund, Gott oder schlicht diese große lebendige Schöpfung – spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist, dass wir mit dieser Erkenntnis unsere eigene Kleinheit anerkennen und gleichzeitig eine tiefe Verbundenheit mit der Ganzheit des Lebens erfahren. Demut und Dankbarkeit sind die natürlichen Grundhaltungen, die aus dieser Erkenntnis erwachsen.

 

Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe

Wenn das Ich nicht im Zentrum steht und immer mehr an Bedeutung verliert, dann geht es auch nicht mehr um unsere ichbezogenen Wünsche. Man könnte es so formulieren: Nicht mein Wille geschehe, sondern „dein Wille geschehe“. Mit dieser Unterscheidung eröffnet sich eine klare Orientierung, mit der wir die Ziele von unterschiedlichen Methoden und Wegen differenzieren können. Geht es hier darum, dass sich meine Wünsche und Vorstellungen ans Leben erfüllen sollen? Oder unterstützt mich diese Praxis darin, demütiger zu werden und in Einklang zu kommen mit dem, was ist, um mich letztlich in das größere Geschehen einfügen zu können?

Wenn uns eine Methode also Reichtum, Stärke, Glück, Gesundheit oder sogar den Weltfrieden durch Gedankenkraft oder Meditation verspricht, kann sie im eigentlichen Sinne nicht spirituell genannt werden, denn es stehen hier offensichtlich persönliche Vorlieben im Vordergrund. Anstatt zu fördern, dass wir demütiger werden, werden durch solche Praktiken das Ich und das Gefühl der eigenen Mächtigkeit sogar noch gestärkt. Aus diesem Grunde sind die Versprechungen der Esoterik auch so verführerisch. Denn der Wunsch des Egos nach Größe wird durch diese Ideen und Praktiken bedient.

 

Achtsamkeit ist nicht gleich Achtsamkeit

Ein typisches Beispiel für den Unterschied zwischen „mein“ und „dein“ Wille können wir in der Praxis der Achtsamkeit beobachten. Achtsamkeit gilt als die zentrale „Übungspraxis“ auf dem spirituellen Weg und wird auf vielfältige Weise geschult und vermittelt. Aber was ist Achtsamkeit und zu welchem Zweck praktizieren wir sie? Das ist oft nicht so eindeutig, wie es im ersten Moment erscheint. Achtsamkeit meint die Fähigkeit des Bewusstseins, sich der äußeren und inneren Vorgänge, so wie sie geschehen, bewusst zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Durch eine systematische Praxis von Achtsamkeit wird das Zeugenbewusstsein gefördert. Dadurch sind wir immer weniger mit den Dingen verklebt und erfahren eine innere Freiheit.

Doch wozu nutzen wir die Achtsamkeit? Ist es unser Ziel, durch Achtsamkeit immer perfekter und effektiver zu werden? Oder geht es uns darum, immer mehr zu erkennen, wie alles, was geschieht, aus dem größeren Zusammenhang heraus auftaucht? Im ersten Fall dient die Praxis der Achtsamkeit der Kontrolle und stärkt das Ichgefühl. Im zweiten Fall praktizieren wir das, was man im Buddhismus „rechte Achtsamkeit“ nennt, bei der immer tiefer realisiert wird, dass wir keine Kontrolle haben und die Ereignisse von selbst geschehen. Dadurch wird das Ichgefühl geschwächt und wir erkennen immer tiefer das Eingebundensein in ein größeres Ganzes. Wir können also am Beispiel der Achtsamkeit sehen, wie ein und die selbe Praxis zu gegensätzlichen Ergebnissen führen kann, je nachdem, welche Haltung wir dazu einnehmen.

 

Innere und äußere Verwirklichung

Wenn das Ich mit seinen Wünschen nicht mehr im Mittelpunkt steht, wo bleiben dann unsere Sehnsüchte nach Frieden, nach Glück, nach Freiheit und Liebe? Müssen wir dann auf all diese für uns Menschen so zentralen Herzenswünsche verzichten? Keineswegs. Nur die Richtung, in der wir diese Qualitäten suchen, ist eine andere, denn all diese Sehnsüchte wurzeln in unserer Seele und dort können wir auch entdecken, was wir oft so mühsam im Außen und bei anderen suchen.

Verbundenheit und Liebe im zwischenmenschlichen Bereich wird immer bedingt sein, unabhängig davon, welche esoterische Praktik wir nutzen. Dagegen können wir in unserer Seele sehr wohl eine tiefe Verbundenheit entdecken, die sich unabhängig von äußeren Bedingungen entfaltet und alle Schrecklichkeiten dieser Welt einschließen kann. Frieden im Äußeren wird immer brüchig bleiben und ist sicher nicht durch gemeinsame Meditation erreichbar. Da wäre vermutlich ein wahrhaftiges, konstruktives Konfliktgespräch viel hilfreicher. Aber innerlich können wir in einen Frieden eintauchen, der bedingungslos ist und alle Spannungen dieser Welt umfassen kann.

 

Wie wir wirken und die Falle der Magie

Wir dürfen also nicht den Fehler machen, innere seelische Qualitäten mit der äußeren Wirklichkeit (= Alltagsrealität) zu verwechseln und dann naiverweise, wenn wir innerlich Frieden und Liebe erfahren, davon ausgehen, dass sich das sofort auf die äußere Welt überträgt. Das wäre nämlich eine magische Vorstellung, welche die seelische Ebene mit der äußeren Wirklichkeit gleichsetzt und damit verwechselt. Außerdem wird durch magische Ideen und Praktiken wiederum das Ich mit seinem Bedürfnis nach Mächtigkeit gestärkt.

Heißt das, dass es keine Auswirkungen auf die äußere Welt und unsere Beziehungen hat, wenn wir innerlich zunehmend mehr Frieden, Gelassenheit, Freiheit und Liebe verspüren und daraus leben? Natürlich hat es eine unmittelbare Wirkung, wie wir leben und handeln und es wird entsprechend über unser kleines Leben hinauswirken. So können wir einen konkreten Beitrag zu einer friedlicheren Welt leisten, ohne dass wir uns selbst, unsere „Energie“ oder unsere „Gedankenkraft“ als den Schlüssel zur Veränderung der Welt sehen. Auf diese Weise erkennen wir die Gesetzmäßigkeiten des Lebens an und auch unsere Kleinheit als Mensch. Gleichzeitig speisen wir durch unsere Art zu sein und zu handeln etwas Heilsames in das große Netz des Lebens ein.

 

Zwei Arten von Frieden

Dass unsere Energie, unsere Gedanken- oder Wunschkraft allein die Welt nicht verändert, sehen wir auch am großen Fest der Liebe und des Friedens: Weihnachten. Viele Millionen Menschen besinnen sich Jahr für Jahr an Weihnachten auf den Frieden in der Welt und beten darum in großer Eintracht. Und doch wissen wir aus langer Erfahrung, dass all diese Gebete die Konflikte und Kriege dieser Welt nicht verändert haben.

Sind diese Gebete dann umsonst? Natürlich nicht. Wie kostbar ist es doch, wenn Menschen innhalten und sich auf das Wesentliche, das Leben ausmacht, besinnen. Und vielleicht können wir hier entdecken, was Jesus gemeint hat, als er vor 2000 Jahren sagte, dass das Himmelreich in uns sei. Ja, es existiert. Tief in unserer Seele gibt es einen Seinsgrund – einen Ort, an dem ein bedingungsloser Friede herrscht. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, zu denken, dass dieser bedingungslose Friede auf die äußere Welt übertragbar wäre. Denn das Leben und damit der Umgang zwischen Menschen und Völkern ist nicht romantisch, sondern voller Unterschiede, Konflikte und Unvereinbarkeiten. Daher braucht der Einsatz für einen äußeren Frieden unsere Offenheit für die Vielfalt, für Spannung und das Schwierige. Und er braucht ein konkretes, mutiges und konstruktives Handeln. Hat das nicht auch Jesus mit seiner radikalen Offenheit und seinem mutigen und authentischen Handeln vorgelebt?

 

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine im Herzen friedliche Advents- und Weihnachtszeit!