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Leben in Widersprüchen?

Freude – Scheitern – Dankbarkeit – Sterben

von Prof. Dr. Michael von Brück

Die Palliativ-Spirituelle Akademie, die am Domicilium in Weyarn gegründet wurde, möchte Menschen, die sich bewusst auf ihr Sterben vorbereiten wollen, und Menschen, die andere im Sterben begleiten, Hilfe durch Weiterbildung anbieten, die auf dem jahrhundertelangen Wissen der Menschheit in ganz unterschiedlichen Kulturen und Religionen aufbaut. Wir verknüpfen dabei unsere eigenen Erfahrungen in der Hospiz-Praxis und in der Meditation mit den modernen wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnissen, die auf pharmakologischen und psychologischen wie auch sozialpsychologischen Erkenntnissen beruhen. Und wir wollen unsere Erfahrungen miteinander teilen.

Damit beleben wir auf dem neuesten Stand des Wissens die alte Kultur der Kunst des Sterbens (ars moriendi) als Kunst des Lebens (ars vivendi). Diese hat im europäischen Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein eine große Rolle gespielt. Der Tod war allgegenwärtig. Krankheit und Kriege rafften die Menschen in frühem Lebensalter dahin. Heute haben wir eine viel höhere Lebenserwartung, Krankheit zum Tode wird weitgehend verdrängt und Sterbende werden noch immer in die Unsichtbarkeit abgeschoben. Aber dies ändert sich. Wir alle werden sterben, und sich darauf vorzubereiten muss keineswegs eine traurige Lebensunlust erzeugen, sondern ganz im Gegenteil, ein bewusster Umgang mit der eigenen Endlichkeit kann die Lebensqualität erhöhen, die Freude am Gegenwärtigen vertiefen und unseren Geist so formen, dass wir – so die Hoffnung – in Frieden sterben werden.

Freude und das Scheitern, Hoffnung und Enttäuschung von Erwartungen, Lebensmut und Krankheit, Dankbarkeit und Verbitterung liegen oft nahe beieinander. Zwischen diesen Polen pendelt unser Leben, und es kommt auf eine bewusste Gestaltung an, um diese Widersprüche fruchtbar zu machen. Auch im Scheitern zu bestehen, auch im Schmerz den Kummer zu überwinden, durch die Klage hindurchzugehen zur Erfüllung, das ist das Grundmotiv der christlichen Erfahrung (und auch der buddhistischen Weisheit nahe verwandt). Mitten im Tod Jesu klingt das Motiv der Erlösung an, mitten im Scheitern menschlicher Erwartung zeigt sich die Öffnung zu göttlicher Erfüllung. Wir werden am Schluss darauf zurückkommen – wie Weihnachten und der Karfreitag einander durchdringen.

Eine wesentliche Übung für eine Integration dieser Widersprüche ist die Praxis der Dankbarkeit. Diese kann kultiviert werden, und darum geht es.

Dankbarkeit

Dankbarkeit zu empfinden ist leicht, wenn ein Projekt gelungen ist und Freude das Gemüt erfasst, aber sie ist schwer, wenn die Zeichen auf Sturm stehen und Finsternis regiert. Dankbarkeit, die nicht abhängig ist von Wunscherfüllungen aller Art, ist die tiefste Frucht spiritueller Praxis, letztlich ist sie wohl ein Geschenk, auf dessen Empfang man sich aber vorbereiten und einstellen kann. Sie ist vielleicht eines der wichtigsten Resultate spirituellen Übens, und sie ist gleichzeitig auch Voraussetzung dafür, dass wir in die Tiefe unseres Geistes schauen und damit erkunden können, wer und wozu wir sind.

Es gibt eine spontane Dankbarkeit, die momentan ist, sie kommt und geht. Sie ist zunächst auch erstrebenswert für die geistige und soziale Balance, denn sie lässt uns den Augenblick mit einem Gefühl der Zufriedenheit auskosten, wenn uns etwas gelungen ist oder wenn ein Wunsch in Erfüllung ging. Dann sind wir dankbar, und in diesem Sinne versuchen wir unseren Kindern beizubringen, das Zauberwort „danke“ zu sagen, bei allen passenden und gelegentlich auch unpassenden Gelegenheiten. Es handelt sich dabei auch um eine zivilisierende Dankbarkeit.

Im Spirituellen geht es um mehr als um diese artige Geste. Es geht um die Grundhaltung der Dankbarkeit, die mit dem zu tun hat, womit die alten Griechen den Anfang der Philosophie begründet haben, nämlich mit dem Staunen. Was heißt das? Es heißt, eine tiefere Einsicht in das Leben zu erlangen, in das eigene wie in das Leben des Universums. Das Staunen ist bei Kleinkindern, und lange noch bis ins Vorschulalter, eine spontane Haltung. Sie staunen über ein Licht, das sie zum ersten Mal sehen, über eine Blüte, die sich öffnet, über eine Biene, die im Blütenkelch verschwindet, über einen Schmetterling, dem sie hinterherlaufen und fassen wollen, aber auch über ein Fahrzeug, das vorbeisaust oder einen Ballon, der über den Häusern schwebt. Alles, was wir zum ersten Mal erleben, löst Staunen aus. Den Heranwachsenden und Erwachsenen hat man das abgewöhnt, oder es ist eine gewisse Stumpfheit eingetreten, weil man alles zu durchschauen glaubt oder zu viele Eindrücke auf sich einwirken lässt. Man hat sich eingerichtet, und vieles läuft nach Routine. Das ist auch notwendig, damit das Leben seinen Fortgang nehmen kann. Aber Grundfragen werden verdrängt oder abgetan. Wie kommt es eigentlich zu ausbalancierten Verhältnissen in der Natur, zum Ausgleich von Populationen, zur Balance des Wetters, so dass Regen und Sonnenschein, Nässe und Trockenheit – unter idealen Bedingungen – einander abwechseln? Gewiss, wir kennen den Kreislauf des Wassers und glauben, dies erkläre die Dinge. Aber dann können wir weiter fragen: Wie kommt es zum Kreislauf des Wassers? Wir erkennen die Mechanismen, nach denen die Vorgänge ineinander greifen, aber die Voraussetzungen des Ganzen haben wir nicht erfasst. Wir bemühen dann die Evolution als eine sich selbst und alles andere generierende „Gottheit“. Wir können dann verschiedene Naturgesetze identifizieren, für unser Beispiel etwa die Gesetze der Schwerkraft oder der Thermodynamik, die dann auch erklären, wie eine bestimmte Funktion zustande kommt und wirkt, aber die Voraussetzungen für diese Gesetzmäßigkeit haben wir damit nicht erkannt. Und das ist Staunen: Fragen zu stellen, die wir uns abgewöhnt haben zu fragen, weil sie so trivial zu sein scheinen. Wo kommt dieses oder jenes eigentlich her? Was ist der Ursprung, wenn sich eine Erscheinung nicht auf eine einzige Ursache zurückführen lässt? Wie verhält es sich mit Synchronisierungen von Abläufen, die oberflächlich zunächst gar nichts miteinander zu tun zu haben scheinen? Wie kommt es, dass eine Stimme angenehm klingt und eine andere nicht? Auch die Frage nach dem Geschmack gehört hierher und die – ja es gibt dieses alte deutsche Wort – nach der Anmutung des Lebens. Warum schmeckt uns ein reicher Rotwein, reich an Bouquet, so gut? Oder ein feiner, ausgewogener Tee? Warum ist der Gesang der Vögel wunderbar, wenn wir uns Zeit lassen und aufmerksam sind? Wie kommt es, dass uns die Konsonanz eines Akkordes in der Musik auf der Gitarre oder im Orchester beglückt, eine Dissonanz hingegen nicht? Mit solchen Fragen lernen wir neu zu staunen.

Von Johann Sebastian Bach (1685-1750) wird eine Geschichte erzählt, dass er sich zu Bett begeben habe, als sein Neffe oder ein anderer Verwandter im Nebenzimmer noch auf dem Cembalo übte. Als er aus unbekanntem Grund plötzlich sein Spiel auf einer Dissonanz abbrach, habe Bach nach einer Weile den Zustand nicht ertragen, sei aus dem Bett gesprungen, um ins Nebenzimmer zu eilen und die Sequenz zu Ende zu spielen, bis die Dissonanz aufgelöst war. Erst dann konnte er schlafen. Bach ertrug die unaufgelöste Dissonanz nicht. Ob die Geschichte stimmt oder nicht, ist unerheblich, sie ist gut erzählt. Denn interessant ist ja: Mit Dissonanzen können wir auf Dauer nicht leben, und wenn doch, so verletzen sie uns, meist sind die psychosomatischen Folgen gravierend. Und bei Dissonanzen geht es nicht allein um Akustik und Klangverhältnisse, sondern um Lebensmuster und personale Beziehungen. Wenn wir abends mit Dissonanz im familiären Umfeld oder mit uns selbst zu Bett gehen, schlafen wir schlecht. Darum ist es sinnvoll, solche Dissonanzen vor dem Schlafengehen aufzulösen. Das trifft nicht nur auf den Abend nach jedem Tag zu, sondern auch auf den Abend des Lebens. Wenn Dissonanzen Jahre oder gar Jahrzehnte lang nicht aufgelöst werden, tun sie nicht nur weh, sondern wirken zerstörerisch. Wir sollten Wege finden sie aufzulösen, um in Frieden sterben zu können.

Staunen können hängt eng damit zusammen, dass wir uns überraschen lassen. Überraschen von dem, was auf uns zukommt, was aus dem Alltäglichen und Erwartbaren herausragt. Allein das Erlebnis eines starken Regens nach vielen Tagen der Hitze unter einer brütenden Sonne in drückende schwerer, stickiger Atmosphäre! Diese Überraschung, den Klang des sanft rauschenden Regens nach dem ersten heftigen Plattern zu hören, das beruhigende Gefühl von dauerndem Gleichmaß, die würzige Luft einzuatmen. Überraschung verstärkt die Aufmerksamkeit bei der Befriedigung durch Spannungslösung, und dies wiederum erhöht die Befriedung zum ausgewogenen Geschehenlassen. Wir können dann ein kleines Ereignis (einen Sonnenstrahl, einen Klang, die Berührung durch eine vorbeischnurrende Katze, ein Kinderlachen) als Überraschung und Freude empfinden, wenn wir aufmerksam-gelöst sind. Überraschung hängt wesentlich mit unserer Aufmerksamkeit zusammen. Routine oder Langeweile wird durchbrochen, wenn wir mit neuer Kraft der Aufmerksamkeit die Dinge wahrnehmen, die passieren. Es hängt weniger daran, was geschieht, sondern wie es für uns geschieht. Jeder Augenblick ist neu, wenn wir ihn als solchen registrieren.

Wenn wir diese Wachheit in uns kultivieren, erleben wir jeden Augenblick als einen spannenden Moment des Lebens. Und wenn wir etwas Spannendes empfinden, entwickelt sich Freude. Und wo Freude ist, ist Dankbarkeit. Wo Dankbarkeit ist, entsteht ein gelassenes Annehmen des Lebens und auch ein gelassenes Weitergehen zum nächsten Schritt in unserer Lebensentwicklung.

Wo Freude ist, müssen wir nichts festhalten. Nehmen wir an, eine Katze streicht grad schmusend um die Beine. Wir genießen das Anschmiegen, wie sie ihren Schwanz bewegt und den Kopf zur Seite biegt, wie sie schnuppert und schmust – das ist Lebendigkeit. Wenn sie genug hat, zieht sie wieder ab und geht ihres Wegs. Sie hängt nicht fest, sondern ist auf ständiger Entdeckungsreise.

Ein solches Ereignis des Lebendigseins detailgenau zu registrieren, lässt uns Dankbarkeit empfinden. Noch einmal: Es ist das Staunen und die Überraschung, beides. Das eine bewirkt das andere und das andere bewirkt das eine. Und sowohl Staunen als auch Überraschung sind davon abhängig, dass wir achtsam sind, auch wenn zunächst einmal äußerlich (fast) nichts passiert. Wie? Indem wir auf den Atem und jede noch so kleine Bewegung in unserem Körper achten. Und selbst wenn wir durch Krankheit und Schwäche ans Bett gefesselt sind, kann in uns gerade in dieser Zeit eine innere Bereitschaft entstehen, auf die ganz kleinen Dinge, auf die Bewegung unseres Atems, auf die ganz feine Bewegung unserer Hände und Ähnliches zu achten und dies mit Dankbarkeit und Staunen zu registrieren. Wer dies im Krankenbett einmal ausprobiert, kann tatsächlich Entdeckungen machen. Dies ist jedenfalls heilsamer, als ständig innerlich und dann auch nach außen zu klagen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Klage hat ihren Platz und ihre Zeit, sie kann nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig sein. Aber auch hier gilt: Sie hat ihre Zeit. Man muss es dann auch wieder sein lassen können und sich der konstruktiveren Einstellung öffnen, von der wir hier reden. Dankbarkeit hängt also wesentlich von Aufmerksamkeit ab, aber nicht nur. Sie ist abhängig auch von unserer Erinnerung, und Erinnerung wird geformt durch die emotionale Intensität, mit der wir einem Ereignis begegnet waren, und durch die Wiederholung des Eindrucks. Die Wiederholung muss nicht physisch sein, sie kann sich auch mental, eben als erinnerndes Erleben vollziehen. So kann auch das, was uns gerade widerfahren ist, emotional verstärkt werden durch das bewusste Wachrufen von Details: Die Katze, die eben um die Beine gestrichen ist, liegt nun mit Abstand dort in der Ecke. Wenn wir aber die Erinnerung wachrufen, jedes Detail der Bewegung noch einmal erleben, vertieft sich der Eindruck, und die Dankbarkeit wächst. Jetzt ist sie wieder da! Dies ist das Prinzip von Visualisierungen, wie sie Praxis vieler Religionen sind, sei es in der tibetischen Meditationspraxis oder beim (inneren) Betrachten der Kreuzwegstationen Jesu. Wir können das Visualisieren lernen und in den ganz kleinen alltäglichen Dingen anwenden. Dann werden die Eindrücke stärker, die Erinnerungen lebhafter und die Dankbarkeit wächst.

Für ein Sterben in Frieden, aber auch schon lange zuvor, wenn wir eine Lebensrückschau halten und etwa zu „runden Geburtstagen“ oder am Neujahrstag Bilanz ziehen, ist es wichtig, die Erinnerungen zunächst zeitlich zu sortieren, damit sie überschaubar werden und kontrolliert konkret werden. Dankbarkeit ist immer auch eine Rückschau. Eine Rückschau auf den eben vergangenen Moment oder auf die Stunden, die jetzt an diesem Tage schon seit dem Erwachen am Morgen dies und jenes gebracht haben, eine Rückschau auf das letzte Jahr und eine Rückschau auch auf unser ganzes Leben.

Oft haben sich traumatische Erlebnisse, Situationen des Versagens und des Scheiterns, der Einsamkeit oder gar der Verzweiflung besonders hartnäckig festgesetzt. Das ist eine psychologisch bekannte Tatsache, für die es benennbare Gründe gibt, die uns aber hier nicht beschäftigen müssen. Wichtig ist, nun auch ganz bewusst die andere Seite wach zu rufen, die Erlebnisse, die uns mit Freude erfüllt haben. Sie sind stärker, wenn wir ihnen Raum und Zeit geben. Ihrer gewahr zu werden, schafft Ausgleich und damit Frieden. Das betrifft in besonderer Weise die Dankbarkeit gegenüber Mitmenschen, getrennten oder verstorbenen Partnern ebenso wie solchen, die mit uns sind und denen gegenüber wir vielleicht innere Distanz empfinden. Auch hier ist es wichtig, die Gesamtheit von gemeinsamem Leben und Erleben in Erinnerung zu rufen. Auch im Schmerz haben wir gelernt. Auch Schmerz ist eine Schule der Reifung, nicht nur die Emotion der Freude. Dankbarkeit kennt beide Seiten, und dies – jedenfalls in der Erinnerung – in Balance zu halten, ist Ausdruck und Eindruck für geistigen Frieden.

Erinnern bedeutet, wie dieses Wort ja schon sagt, etwas nach innen zu ziehen, etwas in unsere innere Bereitschaft, in unser Bewusstsein zu holen. Was wir erinnern, ist immer schon eine vorbewusste Auswahl, meist sind besonders starke Erlebnisse eher präsent als andere, und diese sind mit unterschiedlichen Bewertungen belegt. Manches, was uns in den Sinn kommt, erleben wir als erfreulich, lustvoll, angenehm, dankbar. Und anderes ist uns ein Gräuel, eine schwere Last, vielleicht sogar etwas, was uns das Leben vergällt hat. Wir sagen nicht, dass wir das so erlebt haben, sondern in der Erinnerung jetzt so erleben. Diese Unterscheidung ist wichtig. Die Erinnerung wird ständig umgebaut, sie bleibt nicht, was das Erlebnis einmal war. Wir erinnern uns an Erlebtes so, wie uns das Bewusstsein Ereignisse aus der Vergangenheit jetzt präsentiert, und das hängt von vielen Umständen ab, die jetzt sind – die Umwelt, das Allgemeinbefinden, angeborene wie erworbene psychische Dispositionen, nach denen wir alles bewerten, was uns betrifft, von unserer „Stimmung“ eben. Vieles davon haben wir in der Hand, d.h. wir können Erinnern gestalten. Wie wir die Dinge verarbeiten, können wir mitbestimmen, und diese Mitbestimmung setzt die Markierungen für das, was wir erinnern und wie wir erinnern. Dankbarkeit ergibt sich aus diesem wie.

Krankheiten, die uns unwohl sein lassen, Unruhe in unserem Geist, Dinge, die wir getan haben und zutiefst bereuen, Begegnungen mit anderen Menschen, die wir versäumt haben, weil wir uns nicht darauf eingelassen konnten, oder Begegnungen mit Menschen, die sich so gestaltet haben, dass üble Erinnerungen oder gar Hass geblieben sind – all das hat uns geprägt und es kommt darauf an, im Leben auch diese Seite, die wir negativ bewerten, zu integrieren, und das heißt „reif werden“. Auch das, was wir als negative Erinnerung gespeichert haben, hat uns geprägt und, wenn wir klug damit umgehen, reifer, stärker, größer gemacht. In diesem Sinne meditiert man im Tibetischen Buddhismus über die „Acht Strophen über das Geistestraining“ des tibetischen Meisters Geshe Langri Thangpa (1054-1123). Diese Gedanken unentwegt in Erinnerung zu rufen, kann Dankbarkeit und inneren Frieden erwecken:

  1. Fest entschlossen, das höchste Wohl für alle lebenden Wesen zu erlangen, die großartiger sind als selbst ein wunscherfüllender Edelstein, möchte ich lernen, sie zutiefst zu lieben.
  2. In der Gemeinschaft mit anderen werde ich lernen, von mir als dem niedrigsten von allen zu denken und die anderen achtungsvoll hochzuschätzen aus der Tiefe meines Herzens.
  3. Bei allem Tun will ich lernen, meinen Geist zu erforschen. Und sobald sich Leidenschaften erheben, die mich und andere gefährden, werde ich ihnen fest entgegentreten und sie abwenden.
  4. Ich will lernen, mich um Wesen mit schlechter Natur zu kümmern und um jene, die von schlimmen Sünden und Leiden bedrückt werden, als ob ich einen kostbaren Schatz gefunden hätte, den man nur sehr selten finden kann.
  5. Behandeln mich andere aus Eifersucht schlecht, mit Beschimpfung, Verleumdung und noch mehr, will ich lernen, den Verlust zu ertragen und ihnen den Sieg anzubieten.
  6. Wenn jemand, dem ich mit großer Hoffnung Wohltaten erwiesen habe, mich grundlos sehr verletzt, so will ich lernen, diesen Menschen als vortrefflichen geistigen Führer zu betrachten.
  7. Kurz, ich will lernen, jedem ohne Ausnahme alle Hilfe und alles Glück direkt und indirekt darzubringen und achtungsvoll Schmerz und Leiden meiner Mütter auf mich zu nehmen.
  8. Ich will lernen, all diese Übungen rein zu halten von den Befleckungen der acht weltlichen Auffassungsweisen, und indem ich alle Erscheinungen als Illusionen durchschaue, von der Fessel des Anhaftens erlöst zu werden.

Vielleicht hat gerade durch Schmerz in uns selbst oder in Begegnung mit anderen unsere Bereitschaft zum Mitgefühl zugenommen. Vielleicht hat gerade unsere Aufmerksamkeit auf leidvolle Zustände unsere Sensibilität geweckt und damit unsere menschliche Kraft geweckt. Auch dafür können wir dankbar sein.

Dankbarkeit bedeutet die beiden Seiten zu integrieren. Dann können wir das Leben so leben, dass des Lebens Widersinne „in ein Sinnbild gefasst“ werden, wie es Rainer Maria Rilke in seinem berühmten Gedicht aus dem Stunden-Buch ausgedrückt hat:

Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild fasst,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt.

Du bist der Zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.

Die Lärmenden, das sind die Plagegeister, die den inneren Frieden rauben, weil sie abgespalten und nicht integriert an unserem seelischen Gleichgewicht zerren. Es sind Stimmen von innen und von außen. Der „Gast“ aber, wer ist das? Gott oder eine innere Friedenskraft, ein imaginiertes Gegenüber, dem ich mich anvertraue, aus der mir Mut und Gemeinschaft zuwächst, ohne dass ich „weiß“, ob und wie dieses Gegenüber da ist? Rilke lässt es offen. Integration jedenfalls bedeutet, eine innere Kraft zu entwickeln, die jetzt in diesem Augenblick eine Lebensharmonie ermöglicht. Wer so zurückschauen kann, ist glücklich und voll Freude. Aber das kommt nicht von allein, es ist – wir können das Wort ruhig verwenden und wörtlich nehmen – Arbeit. So wie wir Trauerarbeit leisten müssen, können wir auch Dankbarkeits-Arbeit leisten. Diese Arbeit an sich selbst ist eine spirituelle Arbeit, die beglückt und Freude bereiten kann. Selbstverständlich gibt es auch hier, wie bei jeder Entwicklung von Potentialen, ein Auf und Ab. Es geht nicht immer glatt, und Phasen der ausgeglichenen Dankbarkeit und der vom Zweifel zernagten Zerrissenheit können über lange Zeit hinweg einander abwechseln. Die Praxis braucht Mut und Geduld.

Dankbarkeit ist also wesentlich eine Sache der Erinnerungen und des bewussten Strebens, auch die Widersinne, das Hässliche, das Auseinanderstrebende, die Dissonanzen, die wir erfahren haben und die noch in uns wirken, in ein Sinnbild zu fassen, und das heißt in ein Ganzes zu integrieren.

Integration setzt voraus, was in klassischer religiöser Terminologie die Ausbildung von Mitgefühl und Empathie, die Kraft zur Versöhnung, zur Liebe, genannt wird. All dies sind verschiedene Aspekte ein und derselben Sache, sie sind aber nicht dasselbe. Sie verlangen eine bewusste Korrektur des Verhältnisses zu sich selbst (zu den eigenen Erinnerungen, Gedanken, Emotionen) und eine Korrektur im interpersonalen Bezug. Beides kann vom Willen beeinflusst werden, setzt aber vor allem eine Veränderung der Wahrnehmung voraus, und diese kann wiederum als integrative Wahrnehmung charakterisiert werden. In jedem Fall ist es nicht etwas, das ein für alle Mal erworben werden kann, sondern, wie alles im Leben, entwickeln sich diese Dimensionen durch Anwendung in der Praxis. So wie durch Sport oder Yoga physische Kräfte wachsen, wachsen auch die geistigen, wenn sie gebraucht, d.h. angewendet werden: Mitgefühl, Mitmenschlichkeit, Freude, Dankbarkeit wachsen, wenn wir Widerstände bewusst loslassen, diese positiven Kräfte zulassen und sie praktizieren. Nicht selten sind das tatsächlich drei voneinander unterscheidbare Schritte.

Dankbarkeit ist die Rückschau auf zunächst kleinere Lebensabschnitte, dann im vorgerückten Alter auf das gesamte Leben. Es ist bekannt, dass alte Menschen sich gern in ihren Erinnerungen aufhalten, Fotos betrachten und Vergangenes erzählen. Je älter wir werden, umso größer wird der Zeitraum, den wir erinnern können, und die Erinnerung macht aus dem Leben eine „Erzählung“. Das kann beglückend sein, wenn es gelingt, in der Erzählung einen „roten Faden“ zu entdecken, es kann aber auch schmerzhaft sein, wenn das Leben in widersprüchliche Episoden zerfällt. Menschen neigen dazu, Zusammenhänge zu „konstruieren“. Belügen sie sich dabei selbst, ist nicht alles Zufall ohne Sinn? Eben diese Frage ist nicht objektiv zu beantworten – ich sehe Sinn oder sehe ihn eben nicht. Sinn ist nicht gegeben, sondern das Bewusstsein muss ihn ent-decken, also etwas zunächst Verborgenes ans Licht bringen. Wie? Durch die Freilegung von Potentialen, die im Geist eines jeden Menschen selbst liegen. Wirklichkeit wird zu dem, als was wir sie empfinden, durch Interpretation, sie ist nicht nur gegeben. Selbstverständlich erinnern wir „Fakten“ – solche, die uns Freude bereitet haben, und solche, die (immer noch) Schmerz auslösen. Aber was diese Fakten bedeuten, wie wir sie in die Erzählung des Lebens einordnen, ist ein Sache aktiver mentaler Arbeit. Je früher im Leben wir lernen, Zusammenhänge zu entdecken, umso besser können wir dieses Wissen im Alter anwenden. Was sich aus der Vergangenheit in unseren Erinnerungen zu einer Erfahrung des Ganzen formt, kann die Widersprüche in unserem Leben in ein milderes Licht der Gesamterzählung tauchen. Diese dankbar-milde Erfahrung lässt sich in poetischer Sprachverdichtung erleben als das warme Abendlicht, das die harten Konturen des Tageslichtes ablöst, wenn wir entspannt die Abendstimmung eines zu Ende gehenden Tages genießen. Es ist dies eine treffende Metapher für unser ganzes Leben am Abend des Lebens: die Widersprüche in ein golden farbiges mildes Licht tauchen, ein Licht der geistigen Kraft versöhnter Dissonanz.

Hüten wir uns aber vor kitschiger Beschönigung! Die Widersprüche können so stark in uns wirken, dass sich massiver Widerstand regt gegenüber einer Sicht der Dinge, wie sie eben empfohlen wurde. Erinnerungen an das Hässliche und an die Verletzungen, die wir erfahren haben, können alles überlagern. Auch dann aber sind wir nicht hilf- und machtlos dem Strudel des Schmerzes ausgeliefert. Es ist wirksam die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass wir nicht nur Opfer von Verletzungen sind, die uns andere zugefügt haben, sondern, dass wir selbst auch Täter sind und andere verletzt haben – kein Leben ohne solche Wechselseitigkeit! Hier erweist sich die klassische religiöse Praxis der Beichte als hilfreich; sie ist ja viel mehr als fromme (und altmodisch gewordene) Bußpraxis, sondern sie enthält tiefe psychologische Weisheit: Wenn ich mir der Verletzungen bewusst werde, die ich anderen zugefügt habe, kann ich den eigenen Schmerz kontextualisieren, es werden Wechselbeziehungen sichtbar, und das ist die Voraussetzung für die Fähigkeit zu wechselseitiger Vergebung. Wir können die Schmerzerfahrungen nur dann integrieren, wenn wir auch die Verletzungen sehen, die wir anderen zugefügt haben, ob wir sie gewollt haben oder nicht: Manche sind auch aus Unachtsamkeit geschehen oder weil wir nicht anders konnten, und auch diese gilt es zu erinnern und in das versöhnende milde Licht der erinnernden Dankbarkeit zu tauchen. Solche Praxis hat das Potential zu einer psychischen Befreiung, ohne die wir wohl nicht in Frieden sterben können. Genau an dieser Stelle ist ein verantwortlicher, d.h. ver-antwortender Umgang mit den Erinnerungen möglich und hilfreich. Wir können aktiv das gestalten, was uns die Vergangenheit an „Fakten“ vorgibt. Wir sind nicht einfach ausgeliefert, und indem wir uns aktivieren, gewinnen wir Spielraum für kreative Lebensgestaltung, gerade auch am Ende des Lebens! Wenn diese geistige Kraft wirksam wird, gibt es keine zeitliche Begrenzung, und man kann solche mentale Kraft bis ins hoher Alter einsetzen, buchstäblich bis in die fortgeschrittenen Stadien des Sterbens hinein, das schlagende Beispiel dafür sind die Erfahrungen mit dem Sterbeprozess im tibetischen Buddhismus. Voraussetzung ist allerdings die geistige Gesundheit, d.h. das Verdämmern in Demenz kann durch die hier beschriebene Praxis nicht umgekehrt werden.

Die Erfahrung in der Begegnung mit Sterbenden lehrt, dass die Qualität unseres Blickes in die erinnerte Vergangenheit auch die Art und Weise des Blickes in die Zukunft prägt: Wer dankbar und versöhnt auf das Vergangene zurückblickt, kann auch dankbar und versöhnt dem Tod entgegenwarten. In beiden Fällen ist es ein offener Geist, der noch staunend auf Kommendes zu blicken vermag, der vielleicht der Zukunft in den letzten Phasen des Sterbens und dann auch des Todes mit gelassener Erwartung oder gar einer gewissen Neugier entgegenblickt, der offen ist für Überraschung, was dann kommt und ob etwas kommt. Wenn der Sterbende von Krankheit und Schwäche ausgezehrt wird und vielleicht auch sediert ist durch die notwendigen schmerzmindernden Medikamente, hat bewusstes Erinnern und inneres „Erzählen“ eine Fragilität erreicht, die stabile mentale Zustände nur noch über kurze Zeitspannen hinweg ermöglicht. Dann ist es immerhin noch möglich, sich auf Körperempfindungen zu konzentrieren. Wenn auch diese so verdämmern, dass sie kaum noch Kontur haben, spüren Sterbende, dass jetzt der Tod nahe ist. Wenn der Geist noch so wach ist, diese Phase bewusst zu akzeptieren, kann sich der Sterbende dem Prozess des Sterbens spannungsfrei überlassen, und das ist vermutlich eine Erfahrung von Los-Lösung und Er-lösung tiefster Qualität: Mein Leben geht in eine andere Form über, die ich noch nicht kenne. Hier haben wir allerdings kaum Evidenz aus Beobachtung, abgesehen von Nahtoderfahrungen, von denen wir nicht wissen, wie weit sie qualitativ und quantitativ vom (nicht eingetretenen) Todeszeitpunkt entfernt sind. Auch die ausgefeilten Beschreibungen vom Sterbeprozess in der tibetischen Kultur sind eine Quelle des Wissens, aber auch diesbezüglich sind absolute zeitliche Zuordnungen von Bewusstseinsphänomenen kaum möglich, wenngleich relative Zeitabläufe eine bestimmte Regelmäßigkeit im Sterbeprozess nahelegen. Die Details werden wir ein andermal erörtern.

Fassen wir zusammen

Wenn ich gelernt habe, die Wechselfälle des Lebens, die ich in der Vergangenheit erlebt habe und nun in Erinnerung rufe, im jetzigen Augenblick durch den Tunnel der Aufmerksamkeit zu lenken und dadurch in ein Sinnbild zu fassen durch die geistige Kraft, die Widersprüche in ein Ganzes zu fassen vermag, dann kann ich mit vertrauender Dankbarkeit auch in die Zukunft schauen. Dankbarkeit ist die Voraussetzung für Vertrauen in das Unbekannte.

Woher wissen wir das? Aus der Beobachtung und den Gesprächen mit Sterbenden, die oft mühsam sind, aber eine ganz eigene Intensität erreichen können. Allerdings haben wir auch Kenntnisse aus Selbstbeobachtung in der Meditation. Denn auch hier tauchen wir ein in Bewusstseinszustände, die tiefer liegen und die wir bisher noch nicht gekannt hatten. Meditation ist ein Abenteuer, das wie jedes Abenteuer auch gelegentlich Angst macht: Einerseits sind wir neugierig auf das, was jetzt passiert und im nächsten Moment kommen kann, andererseits aber ängstigt das Unbekannte, es kann auch unangenehm sein, Widerstände und Aggressionen wecken, die keinesfalls reine Freude sind. In der Meditation kann es auch sehr unangenehm werden! Das, was auf dem Meditationskissen durch systematische Übung geschieht, kann sich im Leben auch spontan ereignen – besonders in instabilen Situationen des Übergangs und der Verunsicherung –, und es ereignet sich nach aller Beobachtung (weltweit übrigens) ganz besonders auch in den Phasen des Sterbens, wo Bewusstseinszustände offensichtlich „durchlässiger“ werden, wie immer das auch erklärt werden mag.

Übergangssituationen bedeuten Verlust und Gewinn zugleich: Man verliert Vertrautes (den Partner, die selbstverständliche Gesundheit, die Heimat, den Arbeitsplatz usw.) und gewinnt die Offenheit für etwas Neues und, wenn man sich darauf einlassen kann, eine bereichernde Erfahrung des Lebens. Auch in der letzten Phase des Lebens auf dem Kranken- oder Sterbebett kann auf der Grundlage des Schatzes von Dankbarkeit die Lebenserfahrung des ruhigen, milden, versöhnenden Lichtes eine neue, tiefere Qualität gewinnen, weil jetzt erst eine gewisse abschließende Bilanz möglich wird. Wenn schon im Laufe langer bewusster Lebensgestaltung und nun noch einmal ganz anders in dieser Extremsituation Vertrauen gewachsen ist und/oder neu möglich wird, fällt es Sterbenden leichter, mit Schmerzen umzugehen. Durch mentale Stärke kann der Schmerz bzw. innere Unruhe erträglicher werden. Schmerz ist Indikator von Spannung, die noch nicht aufgelöst ist, und in diesem Erklärungsrahmen können wir das gut belegte Phänomen interpretieren, dass es messbare Rückwirkungen des Mentalen auf das Biologische gibt, dass also der mentale Ausgleich dem Schmerz gegenüber das Schmerzempfinden erheblich reduzieren kann.

Dankbarkeit ist mehr als eine momentane Gefühlsreaktion auf von außen widerfahrende Ereignisse. Sie ist vielmehr eine Grundhaltung zum Leben, die wir erlernen können. Und das ist der entscheidende Punkt. Nicht, dass der eine eben optimistischer veranlagt und dadurch ein wenig glücklicher ist, und der andere eben pessimistisch gestimmt und dadurch eher weniger geneigt zur Dankbarkeit sei, sondern es geht um mentale Prägungen, die mit Geduld kultiviert werden können. Allerdings ist es wie mit allem Lernen: Den einen fällt es leichter, den anderen fällt es schwerer. Entscheidend aber ist: Wir können selbstbestimmt Schritte gehen, diese Schritte aktiv wahrnehmen und uns damit bewusst gestalten. Ob in der Kindheit oder in den Reifejahren bis hin zum Ende des Lebens ist immer ein kleiner oder auch größerer Raum von Freiheit für diese Gestaltung gegeben. Um diese Selbst-Aktivierung geht es.

Dankbarkeit ist nicht nur Gefühl, sondern auch Erkenntnis. Bei allen Dingen, die uns tief berühren, verändern und eine Prägung hinterlassen, kommen Erkenntnis und Gefühl zusammen. Erkenntnis ist das Wahrnehmen und Interpretieren eines Zusammenhanges für genau dieses Ding oder diese Erscheinung. Da alle möglichen Zusammenhänge, Verbindungen Verknüpfungen und Gründe für etwas, was so ist, wie es ist, nie erschöpfend ausgelotet und bekannt werden können, kommt Erkenntnis nie zum Ende. Gefühl ist die Bewertung eines Dinges, einer Erscheinung oder eines Zusammenhanges in Bezug auf uns selbst; in grober Einteilung ist etwas angenehm, unangenehm oder neutral, wobei es unzählige Mischungen und Zwischenstufen gibt.

Wer aber ist es, der etwas wahrnimmt, der Dankbarkeit – oder auch Verzweiflung – entwickelt, wer ist es, der hier „ich“ sagt? Was also heißt „Ich“? Es ist nicht etwas, das dem Geschehen der Welt gegenüberstehen würde, etwas Abgekapseltes, das für sich wäre, sondern es ist eine Ausprägung aus dieser ganzen Evolutionsgeschichte, die sich selbst erkennt und weiß, dass sie ist, die ein aktives Verhältnis zu sich selbst hat. Genau das ist ein Aspekt oder eine Emergenz im schöpferischen Prozess der Welt selbst. Es ist etwas, was durch mich hindurch geht, was ich nicht selbst gemacht habe, sondern das mich formt, so dass ich als dieses bin. Dies so klar wie möglich zu durchschauen möchte ich denkende Dankbarkeit nennen. Das ist eine Einsicht, nicht nur ein Gefühl. Je mehr wir in diese Zusammenhänge Einsicht gewinnen, umso größer das Staunen und umso größer die Dankbarkeit.

Jetzt allerdings kann Folgendes passieren: Das staunende Hineinschauen in den Kosmos ist ein Zurückschauen in die Zeit aufgrund der Expansion des Universums. Je weiter wir schauen, umso mehr schauen wir zurück, und das kann wegen der Unermesslichkeit auch Angst machen. Wann macht es uns Angst und wann erzeugt es Dankbarkeit? Das ist eine wichtige Frage, und es betrifft ja nicht nur das Schauen in den Kosmos, sondern in das eigene Leben bis zu unserer Geburt und noch weiter zurück in die pränatalen Anfänge. Auch das kann Angst machen, wenn wir uns die eigene Geburt vergegenwärtigen und mental nacherleben. Denn in jeder Geburt manifestiert sich die unverfügbare Urgewalt des Schöpferischen. Die damit verbundene Gefahr, ohne die sich kein Leben entwickelt, kann Angst machen, wenn sich der Lebensdruck gleichsam überschlägt und das Individuelle wieder absterben lässt. Wir, die wir diese kurze Zeitspanne von 70 oder 80 oder 90 Jahren leben, gehen bewusst auf den Tod zu, der ein Einschmelzen in die Evolution des Ganzen darstellt.

Wann also macht das Angst, wann macht es dankbar? Angst macht es uns, wenn wir in einem klein definierten Ich-Empfinden etwas festhalten wollen und uns entgegenstellen gegen die Verbindung mit dem Ganzen, wie wir es soeben angedeutet haben, in religiöser Sprache letztlich gegen die Verbindung mit Gott und den göttlichen Energien. Nein – ich will doch mein Eigenes wahren! Wie wir aber gesehen haben, ist das Eigene gar nicht das Eigene, sondern es kommt zu uns. Wo wir aber der Einbildung verfallen, unsere begrenzten Erwartungen zum Maßstab der Sinnhaftigkeit des Universums bzw. Gottes zu machen, ist kein Einklang möglich. Eine solche Haltung ist eher einem trotzigen Aufbegehren zu vergleichen und hat mit Einsicht in die Realität nichts zu tun. Sie bedeutet ja: Ich will eine Dissonanz sein, eine Disharmonie in meiner Familie, in meiner Welt. Eine solche Haltung hat während der Pubertät ihren entwicklungspsychologischen Sinn, aber wenn sie das ganze Leben anhält, wird spirituelles Wachstum verweigert. Die Folge ist dann Angst, und Dankbarkeit ist genau das Gegenteil, ja das Gegenmittel gegen Angst. Es ist ein Sich-hinein-lassen und mittragen lassen, so wie wir uns im Yoga üben und dabei vom Atem tragen lassen – der Arm hebt sich auf der Einatmung und senkt sich auf der Ausatmung, Ein- und Ausatmung bilden die Gestalt, den Einklang.

Alle fundamentalen Lebensbewegungen – das Gehen, das Ruhen, das Essen, das Schmecken, unsere sinnlichen Fähigkeiten und unsere geistigen Fähigkeiten, unsere körperlichen Fähigkeiten zur Bewegung, zur Geschlechtlichkeit und zur Verdauung – sind Energien, die in uns wirksam sind, bevor wir überhaupt ein Gefühl von Ich und mein und Du und dein entwickeln können. Aber woher kommt es, dass wir z.B. in der Lage sind, etwas zu schmecken? Was überhaupt ist „schmecken“? Es ist eine Kommunikation des Wahrnehmungs- und Bewertungssystems mit sich selbst, ein Kommunizieren der Aktivitäten von unterschiedlich empfindlichen Sensoren, die wir in unseren Sinnesorganen haben, und die mental verarbeitet werden zu Eindrücken, die ein bewusst erlebtes Bild der (zeitweiligen) Relation des leibseelischen Organismus mit der Außenwelt erzeugen, wo sich das Bewusstsein seiner selbst bewusst wird. Das nennen wir dann Geist. Wir wissen, dass das passiert, und niemand kann erklären, was es eigentlich ist. Plötzlich wissen wir, dass wir schmecken oder tasten. In letzterem Fall ist es nicht einfach nur heiß oder kalt, so dass unsere Hand automatisch reagiert und wegzieht, ein unmittelbarer Impuls, der uns vor Verbrennungen schützt, sondern da ist die Empfindung mit ihrer vorzüglichen Vielfalt an Möglichkeiten, und diese Empfindung wird uns bewusst. Durch diese Bewusstheit erleben wir, dass wir anwesend sind.

Alle spirituellen Traditionen – angefangen von Jesus im Garten Gethsemane über die Buddhisten, die zum Buddha („dem Erwachten“) werden wollen, bis hin zu dem islamischen Mystiker Dschalal ad-Din Rumi – sprechen den Verdacht aus: Wir sind noch nicht ganz wach, wir sind nicht ganz da.

Aufwachen, Erwachen, Buddha werden – das bedeutet, im jetzigen Augenblick so präsent zu sein wie möglich. Den Wandel, der ohnehin geschieht, nicht nur zulassen, sondern mit Dankbarkeit und Freude zu begleiten. Zu diesem Wandel und Wechsel gehören allerdings auch Schmerz, Abschied und Tränen. Das zu akzeptieren ist immer sehr schwer, man sollte dann tief durchatmen. Das ist wörtlich gemeint, und die Sprache zeigt es schon an: Tief durchatmen heißt, sich besinnen auf die Kräfte, die durch einen hindurch gehen. Dann kehrt die Lebenskraft in gesteigerter Form zurück, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass durch Abschied und Schmerz hindurch das Leben, die Lebendigkeit und das Wachsein nicht aufhört. Das ist Dankbarkeit angesichts des Lebens und des Sterbens, angesichts der Einsicht, dass wir aus dem Sternenstaub kommen und in den Sternenstaub zurück gehen, dass wir eingebunden sind in nicht weniger als die gesamte Evolution der Welt. Ein wunderbares Bild. Eine große Sinfonie des Einklangs, wenn wir uns ihr hinzugeben bereit sind. Spirituelle Praxis besteht darin, diese Hingabe zu lernen.

Wir haben zu Beginn die Widersprüche von Schmerz und Freude, von Scheitern und Glück erwähnt. Im christlichen Kalender ist es der Widerspruch von Karfreitag und Weihnachten. Wir feiern bald wieder das Ritual der Weihnacht, der Geburt Gottes in der Welt menschlicher Widersprüche, des Eintritts des Lichtes in die Dunkelheit. Das Mysterium Jesu Christi ist nichts anders als diese Einheit von Inkarnation und Kreuzestod. Und dies alles, so der christliche Glaube, werde dann in der Auferweckung zu Ostern kulminieren. Letzteres ist eine Angelegenheit des Vertrauens, dass die Bildekräfte des Universums zu einem guten Ziel gelangen, in dem auch die menschliche Sehnsucht aufgehoben ist. Die Einheit von Gottesgeburt im Stall zu Bethlehem und des Kreuzes auf Golgatha aber ist jetzt schon Erfahrung. Es geht allerdings nicht nur um historische Ereignisse, sondern um die Geburt des göttlichen Lichtes in jedem verkümmerten Menschenherzen, hier und jetzt, und um den Durchgang durch den tiefsten Schmerz des Todes zur Erlösung. Beide sind zwei Seiten einer Sache. Keiner hat das so erschütternd erlebt (durch den frühen Tod seiner Eltern, seiner ersten Ehefrau, vieler seiner Kinder) und musikalisch dargestellt wie Johann Sebastian Bach: In seinem Weihnachtsoratorium verweist er immer wieder auf die Klage der Passion; und in seinen Passionen – besonders in der Johannespassion – beginnt die Darstellung des grausigen Geschehens mit dem Ruf der Dankbarkeit „Herr unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen.“, und das Passionsgeschehen endet mit dem Ausruf: „Ich will Dich preisen ewiglich.“ Dankbarkeit trotz allem, in allem. Die durchlebte Einheit von Freude – Scheitern – Dankbarkeit – Sterben. Die gelungene ars moriendi (Kunst des Sterbens) als ars vivendi (Kunst des Lebens).