{"id":7255,"date":"2023-02-20T10:00:59","date_gmt":"2023-02-20T09:00:59","guid":{"rendered":"https:\/\/domicilium.de\/bildung\/?p=7255"},"modified":"2023-10-18T17:58:51","modified_gmt":"2023-10-18T15:58:51","slug":"michael-von-breuck-leben-in-widerspruechen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/domicilium.de\/zen-spiritualitaet-bildung\/michael-von-breuck-leben-in-widerspruechen\/","title":{"rendered":"Beitrag: \u201eLeben in Widerspr\u00fcchen?\u201c von Prof. Dr. Michael von Br\u00fcck"},"content":{"rendered":"\t\t
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Leben in Widerspr\u00fcchen?<\/h1>\t\t\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/section>\n\t\t\t\t
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Freude \u2013 Scheitern \u2013 Dankbarkeit \u2013 Sterben<\/h2>

von Prof. Dr. Michael von Br\u00fcck<\/h5>\t\t\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/section>\n\t\t\t\t
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Die Palliativ-Spirituelle Akademie, die am Domicilium in Weyarn gegr\u00fcndet wurde, m\u00f6chte Menschen, die sich bewusst auf ihr Sterben vorbereiten wollen, und Menschen, die andere im Sterben begleiten, Hilfe durch Weiterbildung anbieten, die auf dem jahrhundertelangen Wissen der Menschheit in ganz unterschiedlichen Kulturen und Religionen aufbaut. Wir verkn\u00fcpfen dabei unsere eigenen Erfahrungen in der Hospiz-Praxis und in der Meditation mit den modernen wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnissen, die auf pharmakologischen und psychologischen wie auch sozialpsychologischen Erkenntnissen beruhen. Und wir wollen unsere Erfahrungen miteinander teilen.<\/p>

Damit beleben wir auf dem neuesten Stand des Wissens die alte Kultur der Kunst des Sterbens (ars moriendi)<\/em> als Kunst des Lebens (ars vivendi)<\/em>. Diese hat im europ\u00e4ischen Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein eine gro\u00dfe Rolle gespielt. Der Tod war allgegenw\u00e4rtig. Krankheit und Kriege rafften die Menschen in fr\u00fchem Lebensalter dahin. Heute haben wir eine viel h\u00f6here Lebenserwartung, Krankheit zum Tode wird weitgehend verdr\u00e4ngt und Sterbende werden noch immer in die Unsichtbarkeit abgeschoben. Aber dies \u00e4ndert sich. Wir alle werden sterben, und sich darauf vorzubereiten muss keineswegs eine traurige Lebensunlust erzeugen, sondern ganz im Gegenteil, ein bewusster Umgang mit der eigenen Endlichkeit kann die Lebensqualit\u00e4t erh\u00f6hen, die Freude am Gegenw\u00e4rtigen vertiefen und unseren Geist so formen, dass wir \u2013 so die Hoffnung \u2013 in Frieden sterben werden.<\/p>

Freude und das Scheitern, Hoffnung und Entt\u00e4uschung von Erwartungen, Lebensmut und Krankheit, Dankbarkeit und Verbitterung liegen oft nahe beieinander. Zwischen diesen Polen pendelt unser Leben, und es kommt auf eine bewusste Gestaltung an, um diese Widerspr\u00fcche fruchtbar zu machen. Auch im Scheitern zu bestehen, auch im Schmerz den Kummer zu \u00fcberwinden, durch die Klage hindurchzugehen zur Erf\u00fcllung, das ist das Grundmotiv der christlichen Erfahrung (und auch der buddhistischen Weisheit nahe verwandt). Mitten im Tod Jesu klingt das Motiv der Erl\u00f6sung an, mitten im Scheitern menschlicher Erwartung zeigt sich die \u00d6ffnung zu g\u00f6ttlicher Erf\u00fcllung. Wir werden am Schluss darauf zur\u00fcckkommen \u2013 wie Weihnachten und der Karfreitag einander durchdringen.<\/p>

Eine wesentliche \u00dcbung f\u00fcr eine Integration dieser Widerspr\u00fcche ist die Praxis der Dankbarkeit. Diese kann kultiviert werden, und darum geht es.<\/p>

Dankbarkeit<\/h3>

Dankbarkeit zu empfinden ist leicht, wenn ein Projekt gelungen ist und Freude das Gem\u00fct erfasst, aber sie ist schwer, wenn die Zeichen auf Sturm stehen und Finsternis regiert. Dankbarkeit, die nicht abh\u00e4ngig ist von Wunscherf\u00fcllungen aller Art, ist die tiefste Frucht spiritueller Praxis, letztlich ist sie wohl ein Geschenk, auf dessen Empfang man sich aber vorbereiten und einstellen kann. Sie ist vielleicht eines der wichtigsten Resultate spirituellen \u00dcbens, und sie ist gleichzeitig auch Voraussetzung daf\u00fcr, dass wir in die Tiefe unseres Geistes schauen und damit erkunden k\u00f6nnen, wer und wozu wir sind.<\/p>

Es gibt eine spontane Dankbarkeit, die momentan ist, sie kommt und geht. Sie ist zun\u00e4chst auch erstrebenswert f\u00fcr die geistige und soziale Balance, denn sie l\u00e4sst uns den Augenblick mit einem Gef\u00fchl der Zufriedenheit auskosten, wenn uns etwas gelungen ist oder wenn ein Wunsch in Erf\u00fcllung ging. Dann sind wir dankbar, und in diesem Sinne versuchen wir unseren Kindern beizubringen, das Zauberwort \u201edanke\u201c zu sagen, bei allen passenden und gelegentlich auch unpassenden Gelegenheiten. Es handelt sich dabei auch um eine zivilisierende Dankbarkeit.<\/p>

Im Spirituellen geht es um mehr als um diese artige Geste. Es geht um die Grundhaltung der Dankbarkeit, die mit dem zu tun hat, womit die alten Griechen den Anfang der Philosophie begr\u00fcndet haben, n\u00e4mlich mit dem Staunen. Was hei\u00dft das? Es hei\u00dft, eine tiefere Einsicht in das Leben zu erlangen, in das eigene wie in das Leben des Universums. Das Staunen ist bei Kleinkindern, und lange noch bis ins Vorschulalter, eine spontane Haltung. Sie staunen \u00fcber ein Licht, das sie zum ersten Mal sehen, \u00fcber eine Bl\u00fcte, die sich \u00f6ffnet, \u00fcber eine Biene, die im Bl\u00fctenkelch verschwindet, \u00fcber einen Schmetterling, dem sie hinterherlaufen und fassen wollen, aber auch \u00fcber ein Fahrzeug, das vorbeisaust oder einen Ballon, der \u00fcber den H\u00e4usern schwebt. Alles, was wir zum ersten Mal erleben, l\u00f6st Staunen aus. Den Heranwachsenden und Erwachsenen hat man das abgew\u00f6hnt, oder es ist eine gewisse Stumpfheit eingetreten, weil man alles zu durchschauen glaubt oder zu viele Eindr\u00fccke auf sich einwirken l\u00e4sst. Man hat sich eingerichtet, und vieles l\u00e4uft nach Routine. Das ist auch notwendig, damit das Leben seinen Fortgang nehmen kann. Aber Grundfragen werden verdr\u00e4ngt oder abgetan. Wie kommt es eigentlich zu ausbalancierten Verh\u00e4ltnissen in der Natur, zum Ausgleich von Populationen, zur Balance des Wetters, so dass Regen und Sonnenschein, N\u00e4sse und Trockenheit \u2013 unter idealen Bedingungen \u2013 einander abwechseln? Gewiss, wir kennen den Kreislauf des Wassers und glauben, dies erkl\u00e4re die Dinge. Aber dann k\u00f6nnen wir weiter fragen: Wie kommt es zum Kreislauf des Wassers? Wir erkennen die Mechanismen, nach denen die Vorg\u00e4nge ineinander greifen, aber die Voraussetzungen des Ganzen haben wir nicht erfasst. Wir bem\u00fchen dann die Evolution als eine sich selbst und alles andere generierende \u201eGottheit\u201c. Wir k\u00f6nnen dann verschiedene Naturgesetze identifizieren, f\u00fcr unser Beispiel etwa die Gesetze der Schwerkraft oder der Thermodynamik, die dann auch erkl\u00e4ren, wie eine bestimmte Funktion zustande kommt und wirkt, aber die Voraussetzungen f\u00fcr diese Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit haben wir damit nicht erkannt. Und das ist Staunen: Fragen zu stellen, die wir uns abgew\u00f6hnt haben zu fragen, weil sie so trivial zu sein scheinen. Wo kommt dieses oder jenes eigentlich her? Was ist der Ursprung, wenn sich eine Erscheinung nicht auf eine einzige Ursache zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4sst? Wie verh\u00e4lt es sich mit Synchronisierungen von Abl\u00e4ufen, die oberfl\u00e4chlich zun\u00e4chst gar nichts miteinander zu tun zu haben scheinen? Wie kommt es, dass eine Stimme angenehm klingt und eine andere nicht? Auch die Frage nach dem Geschmack geh\u00f6rt hierher und die \u2013 ja es gibt dieses alte deutsche Wort \u2013 nach der Anmutung des Lebens. Warum schmeckt uns ein reicher Rotwein, reich an Bouquet, so gut? Oder ein feiner, ausgewogener Tee? Warum ist der Gesang der V\u00f6gel wunderbar, wenn wir uns Zeit lassen und aufmerksam sind? Wie kommt es, dass uns die Konsonanz eines Akkordes in der Musik auf der Gitarre oder im Orchester begl\u00fcckt, eine Dissonanz hingegen nicht? Mit solchen Fragen lernen wir neu zu staunen.<\/p>

Von Johann Sebastian Bach (1685-1750) wird eine Geschichte erz\u00e4hlt, dass er sich zu Bett begeben habe, als sein Neffe oder ein anderer Verwandter im Nebenzimmer noch auf dem Cembalo \u00fcbte. Als er aus unbekanntem Grund pl\u00f6tzlich sein Spiel auf einer Dissonanz abbrach, habe Bach nach einer Weile den Zustand nicht ertragen, sei aus dem Bett gesprungen, um ins Nebenzimmer zu eilen und die Sequenz zu Ende zu spielen, bis die Dissonanz aufgel\u00f6st war. Erst dann konnte er schlafen. Bach ertrug die unaufgel\u00f6ste Dissonanz nicht. Ob die Geschichte stimmt oder nicht, ist unerheblich, sie ist gut erz\u00e4hlt. Denn interessant ist ja: Mit Dissonanzen k\u00f6nnen wir auf Dauer nicht leben, und wenn doch, so verletzen sie uns, meist sind die psychosomatischen Folgen gravierend. Und bei Dissonanzen geht es nicht allein um Akustik und Klangverh\u00e4ltnisse, sondern um Lebensmuster und personale Beziehungen. Wenn wir abends mit Dissonanz im famili\u00e4ren Umfeld oder mit uns selbst zu Bett gehen, schlafen wir schlecht. Darum ist es sinnvoll, solche Dissonanzen vor dem Schlafengehen aufzul\u00f6sen. Das trifft nicht nur auf den Abend nach jedem Tag zu, sondern auch auf den Abend des Lebens. Wenn Dissonanzen Jahre oder gar Jahrzehnte lang nicht aufgel\u00f6st werden, tun sie nicht nur weh, sondern wirken zerst\u00f6rerisch. Wir sollten Wege finden sie aufzul\u00f6sen, um in Frieden sterben zu k\u00f6nnen.<\/p>

Staunen k\u00f6nnen h\u00e4ngt eng damit zusammen, dass wir uns \u00fcberraschen lassen. \u00dcberraschen von dem, was auf uns zukommt, was aus dem Allt\u00e4glichen und Erwartbaren herausragt. Allein das Erlebnis eines starken Regens nach vielen Tagen der Hitze unter einer br\u00fctenden Sonne in dr\u00fcckende schwerer, stickiger Atmosph\u00e4re! Diese \u00dcberraschung, den Klang des sanft rauschenden Regens nach dem ersten heftigen Plattern zu h\u00f6ren, das beruhigende Gef\u00fchl von dauerndem Gleichma\u00df, die w\u00fcrzige Luft einzuatmen. \u00dcberraschung verst\u00e4rkt die Aufmerksamkeit bei der Befriedigung durch Spannungsl\u00f6sung, und dies wiederum erh\u00f6ht die Befriedung zum ausgewogenen Geschehenlassen. Wir k\u00f6nnen dann ein kleines Ereignis (einen Sonnenstrahl, einen Klang, die Ber\u00fchrung durch eine vorbeischnurrende Katze, ein Kinderlachen) als \u00dcberraschung und Freude empfinden, wenn wir aufmerksam-gel\u00f6st sind. \u00dcberraschung h\u00e4ngt wesentlich mit unserer Aufmerksamkeit zusammen. Routine oder Langeweile wird durchbrochen, wenn wir mit neuer Kraft der Aufmerksamkeit die Dinge wahrnehmen, die passieren. Es h\u00e4ngt weniger daran, was geschieht, sondern wie es f\u00fcr uns geschieht. Jeder Augenblick ist neu, wenn wir ihn als solchen registrieren.<\/p>

Wenn wir diese Wachheit in uns kultivieren, erleben wir jeden Augenblick als einen spannenden Moment des Lebens. Und wenn wir etwas Spannendes empfinden, entwickelt sich Freude. Und wo Freude ist, ist Dankbarkeit. Wo Dankbarkeit ist, entsteht ein gelassenes Annehmen des Lebens und auch ein gelassenes Weitergehen zum n\u00e4chsten Schritt in unserer Lebensentwicklung.<\/p>

Wo Freude ist, m\u00fcssen wir nichts festhalten. Nehmen wir an, eine Katze streicht grad schmusend um die Beine. Wir genie\u00dfen das Anschmiegen, wie sie ihren Schwanz bewegt und den Kopf zur Seite biegt, wie sie schnuppert und schmust \u2013 das ist Lebendigkeit. Wenn sie genug hat, zieht sie wieder ab und geht ihres Wegs. Sie h\u00e4ngt nicht fest, sondern ist auf st\u00e4ndiger Entdeckungsreise.<\/p>

Ein solches Ereignis des Lebendigseins detailgenau zu registrieren, l\u00e4sst uns Dankbarkeit empfinden. Noch einmal: Es ist das Staunen und die \u00dcberraschung, beides. Das eine bewirkt das andere und das andere bewirkt das eine. Und sowohl Staunen als auch \u00dcberraschung sind davon abh\u00e4ngig, dass wir achtsam sind, auch wenn zun\u00e4chst einmal \u00e4u\u00dferlich (fast) nichts passiert. Wie? Indem wir auf den Atem und jede noch so kleine Bewegung in unserem K\u00f6rper achten. Und selbst wenn wir durch Krankheit und Schw\u00e4che ans Bett gefesselt sind, kann in uns gerade in dieser Zeit eine innere Bereitschaft entstehen, auf die ganz kleinen Dinge, auf die Bewegung unseres Atems, auf die ganz feine Bewegung unserer H\u00e4nde und \u00c4hnliches zu achten und dies mit Dankbarkeit und Staunen zu registrieren. Wer dies im Krankenbett einmal ausprobiert, kann tats\u00e4chlich Entdeckungen machen. Dies ist jedenfalls heilsamer, als st\u00e4ndig innerlich und dann auch nach au\u00dfen zu klagen. Um kein Missverst\u00e4ndnis aufkommen zu lassen: Klage hat ihren Platz und ihre Zeit, sie kann nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig sein. Aber auch hier gilt: Sie hat ihre Zeit. Man muss es dann auch wieder sein lassen k\u00f6nnen und sich der konstruktiveren Einstellung \u00f6ffnen, von der wir hier reden. Dankbarkeit h\u00e4ngt also wesentlich von Aufmerksamkeit ab, aber nicht nur. Sie ist abh\u00e4ngig auch von unserer Erinnerung, und Erinnerung wird geformt durch die emotionale Intensit\u00e4t, mit der wir einem Ereignis begegnet waren, und durch die Wiederholung des Eindrucks. Die Wiederholung muss nicht physisch sein, sie kann sich auch mental, eben als erinnerndes Erleben vollziehen. So kann auch das, was uns gerade widerfahren ist, emotional verst\u00e4rkt werden durch das bewusste Wachrufen von Details: Die Katze, die eben um die Beine gestrichen ist, liegt nun mit Abstand dort in der Ecke. Wenn wir aber die Erinnerung wachrufen, jedes Detail der Bewegung noch einmal erleben, vertieft sich der Eindruck, und die Dankbarkeit w\u00e4chst. Jetzt ist sie wieder da! Dies ist das Prinzip von Visualisierungen, wie sie Praxis vieler Religionen sind, sei es in der tibetischen Meditationspraxis oder beim (inneren) Betrachten der Kreuzwegstationen Jesu. Wir k\u00f6nnen das Visualisieren lernen und in den ganz kleinen allt\u00e4glichen Dingen anwenden. Dann werden die Eindr\u00fccke st\u00e4rker, die Erinnerungen lebhafter und die Dankbarkeit w\u00e4chst.<\/p>

F\u00fcr ein Sterben in Frieden, aber auch schon lange zuvor, wenn wir eine Lebensr\u00fcckschau halten und etwa zu \u201erunden Geburtstagen\u201c oder am Neujahrstag Bilanz ziehen, ist es wichtig, die Erinnerungen zun\u00e4chst zeitlich zu sortieren, damit sie \u00fcberschaubar werden und kontrolliert konkret werden. Dankbarkeit ist immer auch eine R\u00fcckschau. Eine R\u00fcckschau auf den eben vergangenen Moment oder auf die Stunden, die jetzt an diesem Tage schon seit dem Erwachen am Morgen dies und jenes gebracht haben, eine R\u00fcckschau auf das letzte Jahr und eine R\u00fcckschau auch auf unser ganzes Leben.<\/p>

Oft haben sich traumatische Erlebnisse, Situationen des Versagens und des Scheiterns, der Einsamkeit oder gar der Verzweiflung besonders hartn\u00e4ckig festgesetzt. Das ist eine psychologisch bekannte Tatsache, f\u00fcr die es benennbare Gr\u00fcnde gibt, die uns aber hier nicht besch\u00e4ftigen m\u00fcssen. Wichtig ist, nun auch ganz bewusst die andere Seite wach zu rufen, die Erlebnisse, die uns mit Freude erf\u00fcllt haben. Sie sind st\u00e4rker, wenn wir ihnen Raum und Zeit geben. Ihrer gewahr zu werden, schafft Ausgleich und damit Frieden. Das betrifft in besonderer Weise die Dankbarkeit gegen\u00fcber Mitmenschen, getrennten oder verstorbenen Partnern ebenso wie solchen, die mit uns sind und denen gegen\u00fcber wir vielleicht innere Distanz empfinden. Auch hier ist es wichtig, die Gesamtheit von gemeinsamem Leben und Erleben in Erinnerung zu rufen. Auch im Schmerz haben wir gelernt. Auch Schmerz ist eine Schule der Reifung, nicht nur die Emotion der Freude. Dankbarkeit kennt beide Seiten, und dies \u2013 jedenfalls in der Erinnerung \u2013 in Balance zu halten, ist Ausdruck und Eindruck f\u00fcr geistigen Frieden.<\/p>

Erinnern bedeutet, wie dieses Wort ja schon sagt, etwas nach innen zu ziehen, etwas in unsere innere Bereitschaft, in unser Bewusstsein zu holen. Was wir erinnern, ist immer schon eine vorbewusste Auswahl, meist sind besonders starke Erlebnisse eher pr\u00e4sent als andere, und diese sind mit unterschiedlichen Bewertungen belegt. Manches, was uns in den Sinn kommt, erleben wir als erfreulich, lustvoll, angenehm, dankbar. Und anderes ist uns ein Gr\u00e4uel, eine schwere Last, vielleicht sogar etwas, was uns das Leben verg\u00e4llt hat. Wir sagen nicht, dass wir das so erlebt haben, sondern in der Erinnerung jetzt so erleben. Diese Unterscheidung ist wichtig. Die Erinnerung wird st\u00e4ndig umgebaut, sie bleibt nicht, was das Erlebnis einmal war. Wir erinnern uns an Erlebtes so, wie uns das Bewusstsein Ereignisse aus der Vergangenheit jetzt pr\u00e4sentiert, und das h\u00e4ngt von vielen Umst\u00e4nden ab, die jetzt sind \u2013 die Umwelt, das Allgemeinbefinden, angeborene wie erworbene psychische Dispositionen, nach denen wir alles bewerten, was uns betrifft, von unserer \u201eStimmung\u201c eben. Vieles davon haben wir in der Hand, d.h. wir k\u00f6nnen Erinnern gestalten. Wie wir die Dinge verarbeiten, k\u00f6nnen wir mitbestimmen, und diese Mitbestimmung setzt die Markierungen f\u00fcr das, was wir erinnern und wie wir erinnern. Dankbarkeit ergibt sich aus diesem wie.<\/p>

Krankheiten, die uns unwohl sein lassen, Unruhe in unserem Geist, Dinge, die wir getan haben und zutiefst bereuen, Begegnungen mit anderen Menschen, die wir vers\u00e4umt haben, weil wir uns nicht darauf eingelassen konnten, oder Begegnungen mit Menschen, die sich so gestaltet haben, dass \u00fcble Erinnerungen oder gar Hass geblieben sind \u2013 all das hat uns gepr\u00e4gt und es kommt darauf an, im Leben auch diese Seite, die wir negativ bewerten, zu integrieren, und das hei\u00dft \u201ereif werden\u201c. Auch das, was wir als negative Erinnerung gespeichert haben, hat uns gepr\u00e4gt und, wenn wir klug damit umgehen, reifer, st\u00e4rker, gr\u00f6\u00dfer gemacht. In diesem Sinne meditiert man im Tibetischen Buddhismus \u00fcber die \u201eAcht Strophen \u00fcber das Geistestraining\u201c des tibetischen Meisters Geshe Langri Thangpa (1054-1123). Diese Gedanken unentwegt in Erinnerung zu rufen, kann Dankbarkeit und inneren Frieden erwecken:<\/p>

  1. Fest entschlossen, das h\u00f6chste Wohl f\u00fcr alle lebenden Wesen zu erlangen, die gro\u00dfartiger sind als selbst ein wunscherf\u00fcllender Edelstein, m\u00f6chte ich lernen, sie zutiefst zu lieben.<\/em><\/li>
  2. In der Gemeinschaft mit anderen werde ich lernen, von mir als dem niedrigsten von allen zu denken und die anderen achtungsvoll hochzusch\u00e4tzen aus der Tiefe meines Herzens.<\/em><\/li>
  3. Bei allem Tun will ich lernen, meinen Geist zu erforschen. Und sobald sich Leidenschaften erheben, die mich und andere gef\u00e4hrden, werde ich ihnen fest entgegentreten und sie abwenden.<\/em><\/li>
  4. Ich will lernen, mich um Wesen mit schlechter Natur zu k\u00fcmmern und um jene, die von schlimmen S\u00fcnden und Leiden bedr\u00fcckt werden, als ob ich einen kostbaren Schatz gefunden h\u00e4tte, den man nur sehr selten finden kann.<\/em><\/li>
  5. Behandeln mich andere aus Eifersucht schlecht, mit Beschimpfung, Verleumdung und noch mehr, will ich lernen, den Verlust zu ertragen und ihnen den Sieg anzubieten.<\/em><\/li>
  6. Wenn jemand, dem ich mit gro\u00dfer Hoffnung Wohltaten erwiesen habe, mich grundlos sehr verletzt, so will ich lernen, diesen Menschen als vortrefflichen geistigen F\u00fchrer zu betrachten.<\/em><\/li>
  7. Kurz, ich will lernen, jedem ohne Ausnahme alle Hilfe und alles Gl\u00fcck direkt und indirekt darzubringen und achtungsvoll Schmerz und Leiden meiner M\u00fctter auf mich zu nehmen.<\/em><\/li>
  8. Ich will lernen, all diese \u00dcbungen rein zu halten von den Befleckungen der acht weltlichen Auffassungsweisen, und indem ich alle Erscheinungen als Illusionen durchschaue, von der Fessel des Anhaftens erl\u00f6st zu werden.<\/em><\/li><\/ol>

    Vielleicht hat gerade durch Schmerz in uns selbst oder in Begegnung mit anderen unsere Bereitschaft zum Mitgef\u00fchl zugenommen. Vielleicht hat gerade unsere Aufmerksamkeit auf leidvolle Zust\u00e4nde unsere Sensibilit\u00e4t geweckt und damit unsere menschliche Kraft geweckt. Auch daf\u00fcr k\u00f6nnen wir dankbar sein.<\/p>

    Dankbarkeit bedeutet die beiden Seiten zu integrieren. Dann k\u00f6nnen wir das Leben so leben, dass des Lebens Widersinne \u201ein ein Sinnbild gefasst\u201c werden, wie es Rainer Maria Rilke in seinem ber\u00fchmten Gedicht aus dem Stunden-Buch ausgedr\u00fcckt hat:<\/p>

    Wer seines Lebens viele Widersinne <\/em>
    vers\u00f6hnt und dankbar in ein Sinnbild fasst, <\/em>
    der dr\u00e4ngt die L\u00e4rmenden aus dem Palast, <\/em>
    wird anders festlich, und du bist der Gast, <\/em>
    den er an sanften Abenden empf\u00e4ngt. <\/em><\/p>

    Du bist der Zweite seiner Einsamkeit, <\/em>
    die ruhige Mitte seinen Monologen; <\/em>
    und jeder Kreis, um dich gezogen, <\/em>
    spannt ihm den Zirkel aus der Zeit.<\/em><\/p>

    Die L\u00e4rmenden, das sind die Plagegeister, die den inneren Frieden rauben, weil sie abgespalten und nicht integriert an unserem seelischen Gleichgewicht zerren. Es sind Stimmen von innen und von au\u00dfen. Der \u201eGast\u201c aber, wer ist das? Gott oder eine innere Friedenskraft, ein imaginiertes Gegen\u00fcber, dem ich mich anvertraue, aus der mir Mut und Gemeinschaft zuw\u00e4chst, ohne dass ich \u201ewei\u00df\u201c, ob und wie dieses Gegen\u00fcber da ist? Rilke l\u00e4sst es offen. Integration jedenfalls bedeutet, eine innere Kraft zu entwickeln, die jetzt in diesem Augenblick eine Lebensharmonie erm\u00f6glicht. Wer so zur\u00fcckschauen kann, ist gl\u00fccklich und voll Freude. Aber das kommt nicht von allein, es ist \u2013 wir k\u00f6nnen das Wort ruhig verwenden und w\u00f6rtlich nehmen \u2013 Arbeit. So wie wir Trauerarbeit leisten m\u00fcssen, k\u00f6nnen wir auch Dankbarkeits-Arbeit leisten. Diese Arbeit an sich selbst ist eine spirituelle Arbeit, die begl\u00fcckt und Freude bereiten kann. Selbstverst\u00e4ndlich gibt es auch hier, wie bei jeder Entwicklung von Potentialen, ein Auf und Ab. Es geht nicht immer glatt, und Phasen der ausgeglichenen Dankbarkeit und der vom Zweifel zernagten Zerrissenheit k\u00f6nnen \u00fcber lange Zeit hinweg einander abwechseln. Die Praxis braucht Mut und Geduld.<\/p>

    Dankbarkeit ist also wesentlich eine Sache der Erinnerungen und des bewussten Strebens, auch die Widersinne, das H\u00e4ssliche, das Auseinanderstrebende, die Dissonanzen, die wir erfahren haben und die noch in uns wirken, in ein Sinnbild zu fassen, und das hei\u00dft in ein Ganzes zu integrieren.<\/p>

    Integration setzt voraus, was in klassischer religi\u00f6ser Terminologie die Ausbildung von Mitgef\u00fchl und Empathie, die Kraft zur Vers\u00f6hnung, zur Liebe, genannt wird. All dies sind verschiedene Aspekte ein und derselben Sache, sie sind aber nicht dasselbe. Sie verlangen eine bewusste Korrektur des Verh\u00e4ltnisses zu sich selbst (zu den eigenen Erinnerungen, Gedanken, Emotionen) und eine Korrektur im interpersonalen Bezug. Beides kann vom Willen beeinflusst werden, setzt aber vor allem eine Ver\u00e4nderung der Wahrnehmung voraus, und diese kann wiederum als integrative Wahrnehmung charakterisiert werden. In jedem Fall ist es nicht etwas, das ein f\u00fcr alle Mal erworben werden kann, sondern, wie alles im Leben, entwickeln sich diese Dimensionen durch Anwendung in der Praxis. So wie durch Sport oder Yoga physische Kr\u00e4fte wachsen, wachsen auch die geistigen, wenn sie gebraucht, d.h. angewendet werden: Mitgef\u00fchl, Mitmenschlichkeit, Freude, Dankbarkeit wachsen, wenn wir Widerst\u00e4nde bewusst loslassen, diese positiven Kr\u00e4fte zulassen und sie praktizieren. Nicht selten sind das tats\u00e4chlich drei voneinander unterscheidbare Schritte.<\/p>

    Dankbarkeit ist die R\u00fcckschau auf zun\u00e4chst kleinere Lebensabschnitte, dann im vorger\u00fcckten Alter auf das gesamte Leben. Es ist bekannt, dass alte Menschen sich gern in ihren Erinnerungen aufhalten, Fotos betrachten und Vergangenes erz\u00e4hlen. Je \u00e4lter wir werden, umso gr\u00f6\u00dfer wird der Zeitraum, den wir erinnern k\u00f6nnen, und die Erinnerung macht aus dem Leben eine \u201eErz\u00e4hlung\u201c. Das kann begl\u00fcckend sein, wenn es gelingt, in der Erz\u00e4hlung einen \u201eroten Faden\u201c zu entdecken, es kann aber auch schmerzhaft sein, wenn das Leben in widerspr\u00fcchliche Episoden zerf\u00e4llt. Menschen neigen dazu, Zusammenh\u00e4nge zu \u201ekonstruieren\u201c. Bel\u00fcgen sie sich dabei selbst, ist nicht alles Zufall ohne Sinn? Eben diese Frage ist nicht objektiv zu beantworten \u2013 ich sehe Sinn oder sehe ihn eben nicht. Sinn ist nicht gegeben, sondern das Bewusstsein muss ihn ent-decken, also etwas zun\u00e4chst Verborgenes ans Licht bringen. Wie? Durch die Freilegung von Potentialen, die im Geist eines jeden Menschen selbst liegen. Wirklichkeit wird zu dem, als was wir sie empfinden, durch Interpretation, sie ist nicht nur gegeben. Selbstverst\u00e4ndlich erinnern wir \u201eFakten\u201c \u2013 solche, die uns Freude bereitet haben, und solche, die (immer noch) Schmerz ausl\u00f6sen. Aber was diese Fakten bedeuten, wie wir sie in die Erz\u00e4hlung des Lebens einordnen, ist ein Sache aktiver mentaler Arbeit. Je fr\u00fcher im Leben wir lernen, Zusammenh\u00e4nge zu entdecken, umso besser k\u00f6nnen wir dieses Wissen im Alter anwenden. Was sich aus der Vergangenheit in unseren Erinnerungen zu einer Erfahrung des Ganzen formt, kann die Widerspr\u00fcche in unserem Leben in ein milderes Licht der Gesamterz\u00e4hlung tauchen. Diese dankbar-milde Erfahrung l\u00e4sst sich in poetischer Sprachverdichtung erleben als das warme Abendlicht, das die harten Konturen des Tageslichtes abl\u00f6st, wenn wir entspannt die Abendstimmung eines zu Ende gehenden Tages genie\u00dfen. Es ist dies eine treffende Metapher f\u00fcr unser ganzes Leben am Abend des Lebens: die Widerspr\u00fcche in ein golden farbiges mildes Licht tauchen, ein Licht der geistigen Kraft vers\u00f6hnter Dissonanz.<\/p>

    H\u00fcten wir uns aber vor kitschiger Besch\u00f6nigung! Die Widerspr\u00fcche k\u00f6nnen so stark in uns wirken, dass sich massiver Widerstand regt gegen\u00fcber einer Sicht der Dinge, wie sie eben empfohlen wurde. Erinnerungen an das H\u00e4ssliche und an die Verletzungen, die wir erfahren haben, k\u00f6nnen alles \u00fcberlagern. Auch dann aber sind wir nicht hilf- und machtlos dem Strudel des Schmerzes ausgeliefert. Es ist wirksam die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass wir nicht nur Opfer von Verletzungen sind, die uns andere zugef\u00fcgt haben, sondern, dass wir selbst auch T\u00e4ter sind und andere verletzt haben \u2013 kein Leben ohne solche Wechselseitigkeit! Hier erweist sich die klassische religi\u00f6se Praxis der Beichte als hilfreich; sie ist ja viel mehr als fromme (und altmodisch gewordene) Bu\u00dfpraxis, sondern sie enth\u00e4lt tiefe psychologische Weisheit: Wenn ich mir der Verletzungen bewusst werde, die ich anderen zugef\u00fcgt habe, kann ich den eigenen Schmerz kontextualisieren, es werden Wechselbeziehungen sichtbar, und das ist die Voraussetzung f\u00fcr die F\u00e4higkeit zu wechselseitiger Vergebung. Wir k\u00f6nnen die Schmerzerfahrungen nur dann integrieren, wenn wir auch die Verletzungen sehen, die wir anderen zugef\u00fcgt haben, ob wir sie gewollt haben oder nicht: Manche sind auch aus Unachtsamkeit geschehen oder weil wir nicht anders konnten, und auch diese gilt es zu erinnern und in das vers\u00f6hnende milde Licht der erinnernden Dankbarkeit zu tauchen. Solche Praxis hat das Potential zu einer psychischen Befreiung, ohne die wir wohl nicht in Frieden sterben k\u00f6nnen. Genau an dieser Stelle ist ein verantwortlicher, d.h. ver-antwortender Umgang mit den Erinnerungen m\u00f6glich und hilfreich. Wir k\u00f6nnen aktiv das gestalten, was uns die Vergangenheit an \u201eFakten\u201c vorgibt. Wir sind nicht einfach ausgeliefert, und indem wir uns aktivieren, gewinnen wir Spielraum f\u00fcr kreative Lebensgestaltung, gerade auch am Ende des Lebens! Wenn diese geistige Kraft wirksam wird, gibt es keine zeitliche Begrenzung, und man kann solche mentale Kraft bis ins hoher Alter einsetzen, buchst\u00e4blich bis in die fortgeschrittenen Stadien des Sterbens hinein, das schlagende Beispiel daf\u00fcr sind die Erfahrungen mit dem Sterbeprozess im tibetischen Buddhismus. Voraussetzung ist allerdings die geistige Gesundheit, d.h. das Verd\u00e4mmern in Demenz kann durch die hier beschriebene Praxis nicht umgekehrt werden.<\/p>

    Die Erfahrung in der Begegnung mit Sterbenden lehrt, dass die Qualit\u00e4t unseres Blickes in die erinnerte Vergangenheit auch die Art und Weise des Blickes in die Zukunft pr\u00e4gt: Wer dankbar und vers\u00f6hnt auf das Vergangene zur\u00fcckblickt, kann auch dankbar und vers\u00f6hnt dem Tod entgegenwarten. In beiden F\u00e4llen ist es ein offener Geist, der noch staunend auf Kommendes zu blicken vermag, der vielleicht der Zukunft in den letzten Phasen des Sterbens und dann auch des Todes mit gelassener Erwartung oder gar einer gewissen Neugier entgegenblickt, der offen ist f\u00fcr \u00dcberraschung, was dann kommt und ob etwas kommt. Wenn der Sterbende von Krankheit und Schw\u00e4che ausgezehrt wird und vielleicht auch sediert ist durch die notwendigen schmerzmindernden Medikamente, hat bewusstes Erinnern und inneres \u201eErz\u00e4hlen\u201c eine Fragilit\u00e4t erreicht, die stabile mentale Zust\u00e4nde nur noch \u00fcber kurze Zeitspannen hinweg erm\u00f6glicht. Dann ist es immerhin noch m\u00f6glich, sich auf K\u00f6rperempfindungen zu konzentrieren. Wenn auch diese so verd\u00e4mmern, dass sie kaum noch Kontur haben, sp\u00fcren Sterbende, dass jetzt der Tod nahe ist. Wenn der Geist noch so wach ist, diese Phase bewusst zu akzeptieren, kann sich der Sterbende dem Prozess des Sterbens spannungsfrei \u00fcberlassen, und das ist vermutlich eine Erfahrung von Los-L\u00f6sung und Er-l\u00f6sung tiefster Qualit\u00e4t: Mein Leben geht in eine andere Form \u00fcber, die ich noch nicht kenne. Hier haben wir allerdings kaum Evidenz aus Beobachtung, abgesehen von Nahtoderfahrungen, von denen wir nicht wissen, wie weit sie qualitativ und quantitativ vom (nicht eingetretenen) Todeszeitpunkt entfernt sind. Auch die ausgefeilten Beschreibungen vom Sterbeprozess in der tibetischen Kultur sind eine Quelle des Wissens, aber auch diesbez\u00fcglich sind absolute zeitliche Zuordnungen von Bewusstseinsph\u00e4nomenen kaum m\u00f6glich, wenngleich relative Zeitabl\u00e4ufe eine bestimmte Regelm\u00e4\u00dfigkeit im Sterbeprozess nahelegen. Die Details werden wir ein andermal er\u00f6rtern.<\/p>

    Fassen wir zusammen<\/h3>

    Wenn ich gelernt habe, die Wechself\u00e4lle des Lebens, die ich in der Vergangenheit erlebt habe und nun in Erinnerung rufe, im jetzigen Augenblick durch den Tunnel der Aufmerksamkeit zu lenken und dadurch in ein Sinnbild zu fassen durch die geistige Kraft, die Widerspr\u00fcche in ein Ganzes zu fassen vermag, dann kann ich mit vertrauender Dankbarkeit auch in die Zukunft schauen. Dankbarkeit ist die Voraussetzung f\u00fcr Vertrauen in das Unbekannte.<\/p>

    Woher wissen wir das? Aus der Beobachtung und den Gespr\u00e4chen mit Sterbenden, die oft m\u00fchsam sind, aber eine ganz eigene Intensit\u00e4t erreichen k\u00f6nnen. Allerdings haben wir auch Kenntnisse aus Selbstbeobachtung in der Meditation. Denn auch hier tauchen wir ein in Bewusstseinszust\u00e4nde, die tiefer liegen und die wir bisher noch nicht gekannt hatten. Meditation ist ein Abenteuer, das wie jedes Abenteuer auch gelegentlich Angst macht: Einerseits sind wir neugierig auf das, was jetzt passiert und im n\u00e4chsten Moment kommen kann, andererseits aber \u00e4ngstigt das Unbekannte, es kann auch unangenehm sein, Widerst\u00e4nde und Aggressionen wecken, die keinesfalls reine Freude sind. In der Meditation kann es auch sehr unangenehm werden! Das, was auf dem Meditationskissen durch systematische \u00dcbung geschieht, kann sich im Leben auch spontan ereignen \u2013 besonders in instabilen Situationen des \u00dcbergangs und der Verunsicherung \u2013, und es ereignet sich nach aller Beobachtung (weltweit \u00fcbrigens) ganz besonders auch in den Phasen des Sterbens, wo Bewusstseinszust\u00e4nde offensichtlich \u201edurchl\u00e4ssiger\u201c werden, wie immer das auch erkl\u00e4rt werden mag.<\/p>

    \u00dcbergangssituationen bedeuten Verlust und Gewinn zugleich: Man verliert Vertrautes (den Partner, die selbstverst\u00e4ndliche Gesundheit, die Heimat, den Arbeitsplatz usw.) und gewinnt die Offenheit f\u00fcr etwas Neues und, wenn man sich darauf einlassen kann, eine bereichernde Erfahrung des Lebens. Auch in der letzten Phase des Lebens auf dem Kranken- oder Sterbebett kann auf der Grundlage des Schatzes von Dankbarkeit die Lebenserfahrung des ruhigen, milden, vers\u00f6hnenden Lichtes eine neue, tiefere Qualit\u00e4t gewinnen, weil jetzt erst eine gewisse abschlie\u00dfende Bilanz m\u00f6glich wird. Wenn schon im Laufe langer bewusster Lebensgestaltung und nun noch einmal ganz anders in dieser Extremsituation Vertrauen gewachsen ist und\/oder neu m\u00f6glich wird, f\u00e4llt es Sterbenden leichter, mit Schmerzen umzugehen. Durch mentale St\u00e4rke kann der Schmerz bzw. innere Unruhe ertr\u00e4glicher werden. Schmerz ist Indikator von Spannung, die noch nicht aufgel\u00f6st ist, und in diesem Erkl\u00e4rungsrahmen k\u00f6nnen wir das gut belegte Ph\u00e4nomen interpretieren, dass es messbare R\u00fcckwirkungen des Mentalen auf das Biologische gibt, dass also der mentale Ausgleich dem Schmerz gegen\u00fcber das Schmerzempfinden erheblich reduzieren kann.<\/p>

    Dankbarkeit ist mehr als eine momentane Gef\u00fchlsreaktion auf von au\u00dfen widerfahrende Ereignisse. Sie ist vielmehr eine Grundhaltung zum Leben, die wir erlernen k\u00f6nnen. Und das ist der entscheidende Punkt. Nicht, dass der eine eben optimistischer veranlagt und dadurch ein wenig gl\u00fccklicher ist, und der andere eben pessimistisch gestimmt und dadurch eher weniger geneigt zur Dankbarkeit sei, sondern es geht um mentale Pr\u00e4gungen, die mit Geduld kultiviert werden k\u00f6nnen. Allerdings ist es wie mit allem Lernen: Den einen f\u00e4llt es leichter, den anderen f\u00e4llt es schwerer. Entscheidend aber ist: Wir k\u00f6nnen selbstbestimmt Schritte gehen, diese Schritte aktiv wahrnehmen und uns damit bewusst gestalten. Ob in der Kindheit oder in den Reifejahren bis hin zum Ende des Lebens ist immer ein kleiner oder auch gr\u00f6\u00dferer Raum von Freiheit f\u00fcr diese Gestaltung gegeben. Um diese Selbst-Aktivierung geht es.<\/p>

    Dankbarkeit ist nicht nur Gef\u00fchl, sondern auch Erkenntnis. Bei allen Dingen, die uns tief ber\u00fchren, ver\u00e4ndern und eine Pr\u00e4gung hinterlassen, kommen Erkenntnis und Gef\u00fchl zusammen. Erkenntnis ist das Wahrnehmen und Interpretieren eines Zusammenhanges f\u00fcr genau dieses Ding oder diese Erscheinung. Da alle m\u00f6glichen Zusammenh\u00e4nge, Verbindungen Verkn\u00fcpfungen und Gr\u00fcnde f\u00fcr etwas, was so ist, wie es ist, nie ersch\u00f6pfend ausgelotet und bekannt werden k\u00f6nnen, kommt Erkenntnis nie zum Ende. Gef\u00fchl ist die Bewertung eines Dinges, einer Erscheinung oder eines Zusammenhanges in Bezug auf uns selbst; in grober Einteilung ist etwas angenehm, unangenehm oder neutral, wobei es unz\u00e4hlige Mischungen und Zwischenstufen gibt.<\/p>

    Wer aber ist es, der etwas wahrnimmt, der Dankbarkeit \u2013 oder auch Verzweiflung \u2013 entwickelt, wer ist es, der hier \u201eich\u201c sagt? Was also hei\u00dft \u201eIch\u201c? Es ist nicht etwas, das dem Geschehen der Welt gegen\u00fcberstehen w\u00fcrde, etwas Abgekapseltes, das f\u00fcr sich w\u00e4re, sondern es ist eine Auspr\u00e4gung aus dieser ganzen Evolutionsgeschichte, die sich selbst erkennt und wei\u00df, dass sie ist, die ein aktives Verh\u00e4ltnis zu sich selbst hat. Genau das ist ein Aspekt oder eine Emergenz im sch\u00f6pferischen Prozess der Welt selbst. Es ist etwas, was durch mich hindurch geht, was ich nicht selbst gemacht habe, sondern das mich formt, so dass ich als dieses bin. Dies so klar wie m\u00f6glich zu durchschauen m\u00f6chte ich denkende Dankbarkeit nennen. Das ist eine Einsicht, nicht nur ein Gef\u00fchl. Je mehr wir in diese Zusammenh\u00e4nge Einsicht gewinnen, umso gr\u00f6\u00dfer das Staunen und umso gr\u00f6\u00dfer die Dankbarkeit.<\/p>

    Jetzt allerdings kann Folgendes passieren: Das staunende Hineinschauen in den Kosmos ist ein Zur\u00fcckschauen in die Zeit aufgrund der Expansion des Universums. Je weiter wir schauen, umso mehr schauen wir zur\u00fcck, und das kann wegen der Unermesslichkeit auch Angst machen. Wann macht es uns Angst und wann erzeugt es Dankbarkeit? Das ist eine wichtige Frage, und es betrifft ja nicht nur das Schauen in den Kosmos, sondern in das eigene Leben bis zu unserer Geburt und noch weiter zur\u00fcck in die pr\u00e4natalen Anf\u00e4nge. Auch das kann Angst machen, wenn wir uns die eigene Geburt vergegenw\u00e4rtigen und mental nacherleben. Denn in jeder Geburt manifestiert sich die unverf\u00fcgbare Urgewalt des Sch\u00f6pferischen. Die damit verbundene Gefahr, ohne die sich kein Leben entwickelt, kann Angst machen, wenn sich der Lebensdruck gleichsam \u00fcberschl\u00e4gt und das Individuelle wieder absterben l\u00e4sst. Wir, die wir diese kurze Zeitspanne von 70 oder 80 oder 90 Jahren leben, gehen bewusst auf den Tod zu, der ein Einschmelzen in die Evolution des Ganzen darstellt.<\/p>

    Wann also macht das Angst, wann macht es dankbar? Angst macht es uns, wenn wir in einem klein definierten Ich-Empfinden etwas festhalten wollen und uns entgegenstellen gegen die Verbindung mit dem Ganzen, wie wir es soeben angedeutet haben, in religi\u00f6ser Sprache letztlich gegen die Verbindung mit Gott und den g\u00f6ttlichen Energien. Nein \u2013 ich will doch mein Eigenes wahren! Wie wir aber gesehen haben, ist das Eigene gar nicht das Eigene, sondern es kommt zu uns. Wo wir aber der Einbildung verfallen, unsere begrenzten Erwartungen zum Ma\u00dfstab der Sinnhaftigkeit des Universums bzw. Gottes zu machen, ist kein Einklang m\u00f6glich. Eine solche Haltung ist eher einem trotzigen Aufbegehren zu vergleichen und hat mit Einsicht in die Realit\u00e4t nichts zu tun. Sie bedeutet ja: Ich will eine Dissonanz sein, eine Disharmonie in meiner Familie, in meiner Welt. Eine solche Haltung hat w\u00e4hrend der Pubert\u00e4t ihren entwicklungspsychologischen Sinn, aber wenn sie das ganze Leben anh\u00e4lt, wird spirituelles Wachstum verweigert. Die Folge ist dann Angst, und Dankbarkeit ist genau das Gegenteil, ja das Gegenmittel gegen Angst. Es ist ein Sich-hinein-lassen und mittragen lassen, so wie wir uns im Yoga \u00fcben und dabei vom Atem tragen lassen \u2013 der Arm hebt sich auf der Einatmung und senkt sich auf der Ausatmung, Ein- und Ausatmung bilden die Gestalt, den Einklang.<\/p>

    Alle fundamentalen Lebensbewegungen \u2013 das Gehen, das Ruhen, das Essen, das Schmecken, unsere sinnlichen F\u00e4higkeiten und unsere geistigen F\u00e4higkeiten, unsere k\u00f6rperlichen F\u00e4higkeiten zur Bewegung, zur Geschlechtlichkeit und zur Verdauung \u2013 sind Energien, die in uns wirksam sind, bevor wir \u00fcberhaupt ein Gef\u00fchl von Ich und mein und Du und dein entwickeln k\u00f6nnen. Aber woher kommt es, dass wir z.B. in der Lage sind, etwas zu schmecken? Was \u00fcberhaupt ist \u201eschmecken\u201c? Es ist eine Kommunikation des Wahrnehmungs- und Bewertungssystems mit sich selbst, ein Kommunizieren der Aktivit\u00e4ten von unterschiedlich empfindlichen Sensoren, die wir in unseren Sinnesorganen haben, und die mental verarbeitet werden zu Eindr\u00fccken, die ein bewusst erlebtes Bild der (zeitweiligen) Relation des leibseelischen Organismus mit der Au\u00dfenwelt erzeugen, wo sich das Bewusstsein seiner selbst bewusst wird. Das nennen wir dann Geist. Wir wissen, dass das passiert, und niemand kann erkl\u00e4ren, was es eigentlich ist. Pl\u00f6tzlich wissen wir, dass wir schmecken oder tasten. In letzterem Fall ist es nicht einfach nur hei\u00df oder kalt, so dass unsere Hand automatisch reagiert und wegzieht, ein unmittelbarer Impuls, der uns vor Verbrennungen sch\u00fctzt, sondern da ist die Empfindung mit ihrer vorz\u00fcglichen Vielfalt an M\u00f6glichkeiten, und diese Empfindung wird uns bewusst. Durch diese Bewusstheit erleben wir, dass wir anwesend sind.<\/p>

    Alle spirituellen Traditionen \u2013 angefangen von Jesus im Garten Gethsemane \u00fcber die Buddhisten, die zum Buddha (\u201edem Erwachten\u201c) werden wollen, bis hin zu dem islamischen Mystiker Dschalal ad-Din Rumi \u2013 sprechen den Verdacht aus: Wir sind noch nicht ganz wach, wir sind nicht ganz da.<\/p>

    Aufwachen, Erwachen, Buddha werden \u2013 das bedeutet, im jetzigen Augenblick so pr\u00e4sent zu sein wie m\u00f6glich. Den Wandel, der ohnehin geschieht, nicht nur zulassen, sondern mit Dankbarkeit und Freude zu begleiten. Zu diesem Wandel und Wechsel geh\u00f6ren allerdings auch Schmerz, Abschied und Tr\u00e4nen. Das zu akzeptieren ist immer sehr schwer, man sollte dann tief durchatmen. Das ist w\u00f6rtlich gemeint, und die Sprache zeigt es schon an: Tief durchatmen hei\u00dft, sich besinnen auf die Kr\u00e4fte, die durch einen hindurch gehen. Dann kehrt die Lebenskraft in gesteigerter Form zur\u00fcck, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass durch Abschied und Schmerz hindurch das Leben, die Lebendigkeit und das Wachsein nicht aufh\u00f6rt. Das ist Dankbarkeit angesichts des Lebens und des Sterbens, angesichts der Einsicht, dass wir aus dem Sternenstaub kommen und in den Sternenstaub zur\u00fcck gehen, dass wir eingebunden sind in nicht weniger als die gesamte Evolution der Welt. Ein wunderbares Bild. Eine gro\u00dfe Sinfonie des Einklangs, wenn wir uns ihr hinzugeben bereit sind. Spirituelle Praxis besteht darin, diese Hingabe zu lernen.<\/p>

    Wir haben zu Beginn die Widerspr\u00fcche von Schmerz und Freude, von Scheitern und Gl\u00fcck erw\u00e4hnt. Im christlichen Kalender ist es der Widerspruch von Karfreitag und Weihnachten. Wir feiern bald wieder das Ritual der Weihnacht, der Geburt Gottes in der Welt menschlicher Widerspr\u00fcche, des Eintritts des Lichtes in die Dunkelheit. Das Mysterium Jesu Christi ist nichts anders als diese Einheit von Inkarnation und Kreuzestod. Und dies alles, so der christliche Glaube, werde dann in der Auferweckung zu Ostern kulminieren. Letzteres ist eine Angelegenheit des Vertrauens, dass die Bildekr\u00e4fte des Universums zu einem guten Ziel gelangen, in dem auch die menschliche Sehnsucht aufgehoben ist. Die Einheit von Gottesgeburt im Stall zu Bethlehem und des Kreuzes auf Golgatha aber ist jetzt schon Erfahrung. Es geht allerdings nicht nur um historische Ereignisse, sondern um die Geburt des g\u00f6ttlichen Lichtes in jedem verk\u00fcmmerten Menschenherzen, hier und jetzt, und um den Durchgang durch den tiefsten Schmerz des Todes zur Erl\u00f6sung. Beide sind zwei Seiten einer Sache. Keiner hat das so ersch\u00fctternd erlebt (durch den fr\u00fchen Tod seiner Eltern, seiner ersten Ehefrau, vieler seiner Kinder) und musikalisch dargestellt wie Johann Sebastian Bach: In seinem Weihnachtsoratorium verweist er immer wieder auf die Klage der Passion; und in seinen Passionen \u2013 besonders in der Johannespassion \u2013 beginnt die Darstellung des grausigen Geschehens mit dem Ruf der Dankbarkeit \u201eHerr unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen.\u201c, und das Passionsgeschehen endet mit dem Ausruf: \u201eIch will Dich preisen ewiglich.\u201c Dankbarkeit trotz allem, in allem. Die durchlebte Einheit von Freude \u2013 Scheitern \u2013 Dankbarkeit \u2013 Sterben. Die gelungene ars moriendi<\/em> (Kunst des Sterbens) als ars vivendi<\/em> (Kunst des Lebens).<\/p>\t\t\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/section>\n\t\t\t\t

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