{"id":13723,"date":"2023-11-07T13:55:30","date_gmt":"2023-11-07T12:55:30","guid":{"rendered":"https:\/\/domicilium.de\/zen-spiritualitaet-bildung\/?p=13723"},"modified":"2023-12-05T12:03:38","modified_gmt":"2023-12-05T11:03:38","slug":"richard-stiegler-achtsames-leben-auge-um-auge","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/domicilium.de\/zen-spiritualitaet-bildung\/richard-stiegler-achtsames-leben-auge-um-auge\/","title":{"rendered":"Richard Stiegler: \u201eAchtsames Leben \u2013 Auge um Auge“"},"content":{"rendered":"\t\t
In den letzten Wochen haben uns wieder einmal ersch\u00fctternde Nachrichten aus dem Nahen Osten erreicht. Wie kann es sein, dass Menschen Frauen, Alte und sogar Kinder grausamst t\u00f6ten? Warum h\u00f6rt diese unselige Gewalt, die sich Menschen seit jeher antun, nicht auf? Und ist es wirklich zwingend notwendig, dass man auf eine Aggression mit gro\u00dfer H\u00e4rte antwortet?<\/p>
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Auge und Auge \u2013 und die ganze Welt wird erblinden.<\/em><\/p>
Mahatma Gandhi<\/em><\/p>
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Auge um Auge ist die uralte Logik einer Gewaltspirale. Dabei geht es nicht nur um die niedrigsten aller Beweggr\u00fcnde \u2013 Hass und Rache, sondern um eine tieferliegende Dynamik, die den meisten destruktiven Konflikten zugrunde liegt \u2013 die Opfer-T\u00e4ter-Dynamik. Diese spielt nicht nur in den gro\u00dfen Konflikten zwischen V\u00f6lkern eine wichtige Rolle, sondern auch in zwischenmenschlichen Kontakten \u2013 zwischen Ehepartner\/innen, Nachbar\/innen und Kolleg\/innen. Kennen wir nicht alle destruktive Konflikte aus unserem Beziehungsleben, in denen wir selbst verh\u00e4rten?<\/p>
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Opfergef\u00fchle und ihre Macht<\/strong><\/p>
Am Beginn dieser Dynamik f\u00fchlen wir uns vielleicht verletzt, bedroht oder ungerecht behandelt. Dadurch entsteht ein Opfergef\u00fchl. Ob wir wirklich ungerecht behandelt oder verletzt wurden oder ob es nur unsere Sicht auf die Situation ist, ist dabei vollkommen nebens\u00e4chlich, denn entscheidend f\u00fcr die weitere Opfer-T\u00e4ter-Dynamik ist unser Gef\u00fchl, nicht die tats\u00e4chliche Situation.<\/p>
Dass die Gef\u00fchle und unser Umgang damit, aber nicht die Umst\u00e4nde entscheidend sind, k\u00f6nnen wir daran ermessen, wie verschiedene Menschen auf ein und denselben Anlass sehr unterschiedlich reagieren. Denken wir an Menschen, die von ihrem\/r Partner\/in verlassen wurden. Ist es nicht erstaunlich, wie hier manche der ehemaligen Partner\/innen nach einer Trauerphase freundschaftlich verbunden bleiben k\u00f6nnen, andere aber einen schrecklichen Rosenkrieg beginnen? Auch bei Israelis und Pal\u00e4stinensern gibt es \u00e4hnliche Beispiele: Manche Trauernde, die Angeh\u00f6rige in diesem blutigen Konflikt verloren haben, verh\u00e4rten in ihrem Schmerz und kennen nur noch Kampf und Rache. Andere jedoch setzen sich nach so einem schmerzlichen Verlust f\u00fcr Friedensinitiativen und V\u00f6lkerverst\u00e4ndigung ein.<\/p>
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Wie aus Opfern T\u00e4ter werden<\/strong><\/p>
Um die Macht der Opfer-T\u00e4ter-Dynamik tiefer zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass das Opfergef\u00fchl nicht einfach nur ein schmerzliches Gef\u00fchl ist. Es kann sich zu einer Opferidentit\u00e4t verdichten, die dann Menschen von innen her \u2013 manchmal ein Leben lang \u2013 bestimmt. Anders gesagt, es kann zu einer starken Identifizierung mit dem Gef\u00fchl, ein Opfer zu sein, kommen. Ein Beispiel daf\u00fcr sind Menschen, die in ihrer Kindheit stark traumatisiert wurden und deren Verwundung zu einem grunds\u00e4tzlichen Lebensmuster gerinnt.<\/p>
Immer aber, wenn es zu einer Identifikation kommt, entsteht unbewusst ein Anspruchsdenken, das wiederum sehr schnell in eine T\u00e4ter-Dynamik m\u00fcnden kann. Wir k\u00f6nnen uns das bildhaft so vorstellen: Wenn ich in \u201emeinem Haus\u201c (als Metapher f\u00fcr die Ich-Identit\u00e4t) angegriffen werde und dort jemand ein Fenster zertr\u00fcmmert, dann gibt es eben nicht nur das Gef\u00fchl der Verletzung, sondern auch die Vorstellung, ein Recht auf Unversehrtheit zu haben. Damit geht eine Emp\u00f6rung \u00fcber den Angriff einher und die vermeintliche Berechtigung, mich verteidigen zu d\u00fcrfen \u2013 also zur\u00fcckzuschlagen oder die Beziehung zum \u201eAngreifer\u201c zu kappen. Beide Reaktionsmuster haben eine ungeheuer aggressive und machtvolle Wirkung, obwohl sich die Person selbst vielleicht innerlich dabei ohnm\u00e4chtig und verletzt f\u00fchlt.<\/p>
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Der Akt der Verteidigung ist schon ein Angriff.<\/em><\/p>
Masanobu Fukuoka<\/em><\/p><\/blockquote>
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Die meisten Aggressionen im Kleinen wie im Gro\u00dfen werden aus dem Opfergef\u00fchl heraus begr\u00fcndet und dem Anspruch daraus, sich zur Wehr setzen zu d\u00fcrfen. Sogar die gro\u00dfen Diktatoren dieser Welt sehen sich als Opfer und begr\u00fcnden damit ihre Grausamkeiten.<\/p>
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Den Schmerz w\u00fcrdigen<\/strong><\/p>
Gibt es einen Weg, um aus der Opfer-T\u00e4ter-Dynamik auszusteigen und den Leidenskreislauf zu beenden? Ja, das gibt es. Doch es ist ein anspruchsvoller Weg, der uns viel abverlangt, uns letztlich jedoch eine gro\u00dfe Freiheit bringt.<\/p>
Der erste Schritt auf diesem Weg ist, dass der urspr\u00fcngliche Schmerz, der sich in der Opferidentit\u00e4t verbirgt, anerkannt und gew\u00fcrdigt wird. Es geht dabei nicht um die \u00e4u\u00dfere ausl\u00f6sende Situation, sondern um eine Hinwendung zum eigentlichen Schmerz in der Person \u2013 also zum inneren Erleben.<\/p>
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Wenn dein Haus angez\u00fcndet wird, dann k\u00fcmmerst du dich nicht zuerst um den Brandstifter, sondern um dein Haus.<\/em>
Genauso ist es mit deiner Wut und deinem Schmerz.<\/em>
Wenn dich jemand verletzt, k\u00fcmmere dich liebevoll um deine Verletzung und nicht um denjenigen, der sie ausgel\u00f6st hat.<\/em><\/p>Thich Nhat Hanh<\/em><\/p><\/blockquote>
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Bevor sich eine Person in ihrem Gef\u00fchl nicht gesehen und gew\u00fcrdigt f\u00fchlt, kann sie innerlich nicht ihre Schutzh\u00fcllen ablegen und weich werden. Das ist der erste Schritt der Heilung. Bei einzelnen Menschen kann dies durch eine einf\u00fchlsame Begleitung geschehen. Zwischen V\u00f6lkern k\u00f6nnen \u00f6ffentliche Bekenntnisse wie z.B. der Kniefall von Willy Brandt in Warschau oder das Holocaust-Denkmal zu Ehren der Opfer im dritten Reich viel zur Vers\u00f6hnung beitragen.<\/p>
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Verantwortung \u00fcbernehmen und frei werden<\/strong><\/p>
Der zweite und entscheidende Schritt, um aus dem Opfergef\u00fchl auszusteigen, ist jedoch noch viel anspruchsvoller. Es braucht die Bereitschaft, dass wir die Verantwortung f\u00fcr unsere Gef\u00fchle \u00fcbernehmen und die \u00e4u\u00dferen Ausl\u00f6ser f\u00fcr unseren Schmerz aus der Verantwortung entlassen. Nur dann werden wir wirklich frei, unabh\u00e4ngig davon, was wir erlebt und durchlitten haben. Es gibt immer wieder Zeugnisse von Menschen, die schwerste Misshandlungen erlebt haben und denen es m\u00f6glich war, keine Opferidentit\u00e4t auszubilden und so aus dem Leidenskreislauf der Opfer-T\u00e4ter-Dynamik aussteigen konnten.<\/p>
Dazu aber braucht es eine radikale Hinwendung zu unserer Verwundung. Ja, mehr noch: Wir m\u00fcssen dem schmerzlichen Erleben und unserer Zerbrechlichkeit bedingungslos zustimmen und es zu uns nehmen. Das bedeutet gleichzeitig, einen vollkommenen Verzicht auf alle Anspr\u00fcche, Ideale und Vorstellungen, die unsere Opferidentit\u00e4t aufrechterhalten. Denn, was aus einer Verwundung eine Opferidentit\u00e4t macht, ist nicht der Schmerz, sondern die Abwehr, welcher letztlich eine Identifikation mit Vorstellungen, Anspr\u00fcchen und Idealen zugrunde liegt. Nur wenn wir bereit sind, diese Vorstellungen und Anspr\u00fcche beiseite zu legen, k\u00f6nnen wir uns aus dem Leidensmuster einer Opferidentit\u00e4t befreien und unser Herz wieder f\u00fcr alle Menschen \u00f6ffnen \u2013 sogar f\u00fcr diejenigen, die uns (vermeintlich) B\u00f6ses zugef\u00fcgt haben.<\/p>
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Krieg beginnt, wenn wir unser Herz hart werden lassen. Daher ist die wahre Arbeit eines Friedensstifters: inmitten einer unangenehmen Situation den Punkt der Verletzlichkeit und Zartheit zu finden und dabei zu verweilen. Sind wir f\u00e4hig, bei dieser Verletzlichkeit und diesem zarten Herzen zu verweilen, dann kultivieren wir die Samen des Friedens.<\/em><\/p>
Pema Ch\u00f6dren<\/em><\/p><\/blockquote>
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\u00dcBUNG: Aus dem Opfergef\u00fchl aussteigen<\/strong><\/p>
- Erinnere dich an eine Situation, welche ein Opfergef\u00fchl in dir ausgel\u00f6st hat. (Vielleicht hast du dich ungerecht behandelt gef\u00fchlt, oder du wurdest besch\u00e4mt oder verletzt, oder\u2026) Was genau hat dich verletzt?
<\/li>- Welche Gef\u00fchle tauchen auf, wenn du dir diese Situation vergegenw\u00e4rtigst? Was geschieht dabei spontan im K\u00f6rper? Visualisiere die Verwundung phantasievoll.
<\/li>- Dann mach dir bewusst: \u201eWas immer du hier f\u00fchlst, du darfst diese Gef\u00fchle und diese Verwundung haben. Es ist zutiefst menschlich, verletzlich zu sein.\u201c Sp\u00fcr, was sich innerlich ausbreitet, wenn die Verwundung und deine Gef\u00fchle dazu wirklich da sein d\u00fcrfen \u2013 wenn sie angenommen und gew\u00fcrdigt werden?
<\/li>- Betrachte jetzt im n\u00e4chsten Schritt, welche inneren Anspr\u00fcche, Vorstellungen und Ideale dein Opfergef\u00fchl erzeugen und aufrechterhalten.
<\/li>- Untersuche nochmal in Achtsamkeit, welche Wirkung diese Vorstellungen, Anspr\u00fcche und Ideale auf dich haben, wenn sie dich bestimmen: Welche Gef\u00fchle k\u00f6nnen sie ausl\u00f6sen? Lass dazu eine Geb\u00e4rde auftauchen. Schl\u00fcpf in diese Geb\u00e4rde hinein und erkunde, in welche innere Welt du dann kommst\u2026
<\/li>- Atme jetzt tief durch und lege ganz bewusst alle Vorstellungen, Anspr\u00fcche und Ideale, die hier wirken, zur Seite\u2026 Dann sp\u00fcr, was sich in dir dadurch ausbreitet. Lass dazu wieder eine Geb\u00e4rde auftauchen und schl\u00fcpf hinein. Welche Qualit\u00e4t breitet sich hier in deiner Seele aus, wenn du frei von allen Vorstellungen bist? Wie gehst du dann mit deiner Verwundung um? Und wie lebst du dann?<\/li><\/ul><\/div><\/div><\/div>\t\t\t\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/div>\n\t\t\t\t\t<\/div>\n\t\t<\/section>\n\t\t\t\t<\/div>\n\t\t","protected":false},"excerpt":{"rendered":"
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