Beitrag

Achtsames Leben – Woran wir uns orientieren

von Richard Stiegler

An welchen Werten orientiert sich eigentlich unsere Gesellschaft? Ganz vorne in der Rangliste rangieren hier zwei Themen: Leistung und Konsum. Beide Aspekte haben jedoch oft ungünstige Auswirkungen – sowohl für uns persönlich als auch global. Wie viele Menschen opfern aufgrund einer ehrgeizigen Leistungsbezogenheit ihr natürliches Tempo und gehen dabei regelmäßig über eigene Grenzen? Und global hat die Orientierung an stetigem, wirtschaftlichem Wachstum zu großen ökologischen Problemen geführt.

Auch der Konsum verführt Menschen, ihre einfachen, natürlichen Bedürfnisse zu übergehen und schafft viele Pseudobedürfnisse, denen sie nachjagen. In den westlichen Ländern verbraucht der Lebensstandard, der sich in den letzten 50 Jahren entwickelt hat, so viele Ressourcen, dass wir inzwischen mindestens zwei Erden bräuchten, um ihm nachzukommen. Es ist daher höchste Zeit, sich neu auszurichten.

 

Den Altar abräumen

Woran können wir uns also orientieren, wenn wir auf der Suche nach einem authentischen und innenzentrierten Leben sind und unser ureigenstes Wesen entfalten wollen? Kann eine solche Lebensführung auch im Einklang damit stehen, dass wir Teil eines größeren Ökosystems sind?

Wer auf der Suche nach sich selbst und einem authentischen Lebensstil ist, muss sich zunächst einmal erlauben, alle äußeren Maßstäbe und alle übernommenen inneren Überzeugungen und Ideale auf die Seite zu stellen. Der innere Altar muss abgeräumt werden, damit ein Freiraum entsteht, auf die authentische innere Wahrheit zu hören. Wie sollen wir auch die Stimme unseres Wesens und unseres Herzens vernehmen, solange wir unbewusst verinnerlichte Glaubenssätze anbeten?

Es kommt fast für jeden Menschen der Augenblick, wo die überkommene und gelernte Religion von ihm abfällt, wie Mörtel von der Wand. Erziehung, Haus und Familie, religiöses Milieu, alles kann uns nichts helfen. Denn es muss so kommen (dass die äußeren Werte abfallen), damit der Mensch er selbst wird.
– Albert Schweitzer

 

Der innere Kompass

Erst wenn ein innerer Freiraum entsteht, können wir spüren, dass es einen seelischen Kompass gibt, der uns verlässlich zur Verfügung steht. So wie ein Kompass immer nach Norden weist, so zeigt uns der innere Kompass die Richtung an, welche unserem natürlichen Wesen entspricht. Sobald wir nach innen lauschen, vernehmen wir körperlich-seelische Signale, die uns anzeigen, ob gerade eine innere Stimmigkeit besteht oder nicht. Doch Hand aufs Herz: Wie oft übergehen wir diese Signale?

Vielleicht setzen wir uns gerade unter Druck und sind überzeugt davon, dass es ganz wichtig ist, den Zeitplan einzuhalten. Unsere Seele jedoch signalisiert uns, dass unser Tempo viel zu hoch ist und schickt uns Zeichen der Überforderung und Erschöpfung. Wie anders ist doch unser Lebensgefühl, wenn wir auf unsere Seele hören und unserem natürlichen Tempo entsprechend leben?

 

Bedürfnisse und Stimmigkeit

Manche Menschen könnten nun hören, dass die Orientierung an der inneren Stimmigkeit darin besteht, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen. Doch das ist eine Verwechslung. Viele vordergründige Bedürftigkeiten haben nichts oder nur sehr wenig mit der inneren Stimme unseres Wesens zu tun. Manchmal gibt es sogar einen inneren Ruf, der unserem Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Sicherheit vollkommen widerspricht.

Eine schlichte Frage kann hier manchmal erhellend sein: Verschafft uns das Bedürfnis Befriedigung oder schenkt es uns Frieden? Meist spüren wir sofort, ob ein Bedürfnis wirklich mit unserem Wesen übereinstimmt oder uns nur dazu verführt, dem Schein einer Erfüllung nachzujagen.

Vergnügungen machen unser Herz dumpf. Schätze, die oft schwer erreichbar sind, machen unseren Weg krumm. Daher lässt sich der Weise von seinem Herzen führen und nicht von seinen Augen.
– Laotse

 

Der Prozess der Läuterung

Wenn wir uns am inneren Kompass der Stimmigkeit orientieren und ihn ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit stellen, werden wir entdecken, dass unser Leben einfacher, innenzentrierter und entsprechend authentischer wird. Doch eine Frage bleibt: Ist eine solche innere Orientierung nicht sehr ich-zentriert?

Tatsächlich bedeutet Lauschen auf die Stimmigkeit nicht nur ein Lauschen auf unsere eigene seelische Wahrheit, sondern auch ein Lauschen auf die größere Stimmigkeit, welche die äußeren Gegebenheiten mit einbezieht. Es geht eben nicht nur um die Entfaltung unseres eigenen Wesens, sondern um die Übereinstimmung mit einem größeren – essenziellen – Willen. Um uns für diesen größeren Willen zu öffnen, werden die ich-bezogenen Wünsche immer wieder einen Prozess der Läuterung durchlaufen müssen. Denn letztlich geht es um Offenheit.

Das ist nicht gerade angenehm und fühlt sich manchmal an, als ob wir von den Umständen zurechtgestutzt würden. Wenn wir uns aber nicht aus der Gesamtheit des Lebens herauslösen und damit persönlich wie global unsere Wurzeln abschneiden wollen, ist dies nicht nur Ausdruck einer spirituellen Haltung, sondern sogar ein existentiell notwendiger Vorgang.

Wo der innere Ruf mit dem Ruf aus der äußeren Welt zusammentrifft, dort zeigt sich die Berufung – der essentielle Weg…
Frei nach Aristoteles

 

Innenzentriert und offen

Bedeutet Läuterung, dass wir unseren inneren Ruf aufgeben müssen? Also dass wir uns nicht mehr am inneren Kompass der Stimmigkeit orientieren?

Nein. Es geht nicht um „entweder – oder“, sondern darum, innerlich mit unserer inneren Wahrheit verbunden zu sein, aber nicht an festen Zielvorstellungen festzuhalten. Anders ausgedrückt: Es geht darum, innenzentriert zu sein und offen zu bleiben für das Leben, so wie es sich entwickelt. Das ist der „große Weg“, wie Laotse schon im vierten Jahrhundert vor Christus bemerkte.

 

ÜBUNG: Innenzentriert und offen

  • Erinnere dich zunächst an die Haltung einer totalen Empfänglichkeit. Lass die Worte in dir klingen: „Vollkommen Offensein“ und lass dazu eine Gebärde auftauchen. Was breitet sich innerlich aus, wenn du dich ganz in diese Haltung und in diese Gebärde hineingibst?

  • Dann lass jetzt in dieser Offenheit einen Herzenswunsch auftauchen. Etwas, das dir ein tiefes Anliegen für dich oder für andere ist.

  • Spür jetzt die Kraft, die Vitalität und die Liebe, die in diesem Herzensanliegen liegen. Visualisiere diese Kraft fantasievoll.

  • Tauche jetzt in das Bild hinein und lass diese Kraft in deinen ganzen Organismus kommen. Lass sie sich in deinem ganzen Sein ausbreiten und spür, wie sich das anfühlt.

  • Dann mach dir bewusst, dass dein Herzenswunsch und diese Kraft kostbar sind, unabhängig davon, ob sich der Wunsch erfüllt oder nicht.

  • Lass jetzt alle Vorstellungen los, was in Zukunft geschehen soll, und öffne dich. Erinnere dich wieder an die Haltung der vollkommenen Offenheit und spür darin die Kraft deines Herzenswunsches.

  • Lass dir Zeit dafür, wie es sich anfühlt, mit Herzkraft in Verbindung zu sein und offen zu sein?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert