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Achtsames Leben – Wie die Vereinzelung zunimmt
von Richard Stiegler
In meiner Kindheit war der Gottesdienst am Sonntag noch eine Institution, bei der die Menschen zusammenkamen. Heutzutage fühlen sich jedoch immer weniger Menschen in den Kirchen daheim. Die leeren Gottesdienste und die zahlreichen Kirchenaustritte sprechen Bände.
Das bedeutet nicht, dass sich weniger Menschen nach einer spirituellen Anbindung sehnen, aber sie suchen diese nicht mehr in den traditionellen Kirchen und den althergebrachten Riten. Vielmehr gehen sie eigene Wege und praktizieren spirituelle Methoden, welche vor allen Dingen einen erfahrungsbetonten Zugang fördern. Die Schattenseite dieser Entwicklung ist, dass das Gefühl von Zugehörigkeit abnimmt und der spirituelle Weg immer individueller wird. Die Freiheit, das zu glauben, was wir wollen, nimmt zu, die Vereinzelung und Verunsicherung jedoch auch.
Eine schleichende Verunsicherung
Dass unser Leben immer individueller wird, können wir nicht nur in der Spiritualität, sondern in vielen Bereichen unseres Lebens feststellen. Ein wesentliches Merkmal des modernen Lebens ist, dass es zu einer schleichenden Auflösung von Zugehörigkeiten kommt. Verbindende gesellschaftliche Strukturen wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, zu einer Firma in der Arbeitswelt oder auch zu einer einheitlichen ethnischen Gruppe mit einheitlichen Werten sind nicht mehr selbstverständlich und so fallen viele – für lange Zeit vertraute und verbindende – Bezugspunkte weg.
Ist es da ein Wunder, dass in der Gesellschaft nicht nur die Einsamkeit, sondern auch die Verunsicherung um sich greift? So können wir beobachten, wie nicht wenige, die sich durch das Auflösen vertrauter Werte und Strukturen bedroht fühlen, das „Wir-Gefühl“ in der Abgrenzung zu Flüchtenden, zu Moslems, zu queeren Menschen oder zur Europäischen Union suchen. Ist das Wiedererstarken autoritärer Systeme und neuer rechter politischer Kräfte vielleicht der Versuch, einer grundlegenden Verunsicherung über die eigene Identität entgegenzuwirken?
Was uns Halt gibt
Es lohnt sich, einmal genauer zu betrachten, woraus Menschen das Gefühl von innerer Sicherheit und Selbstwert beziehen. Im Zentrum steht hier immer das Identitätsgefühl. Wer glaube ich zu sein? Auf welchen Selbstbildern und Werten ist meine Identität aufgebaut? Mit welchen Aufgaben und Rollen bin ich identifiziert? Welchen Platz nehme ich in meinen Beziehungssystemen ein? Es gibt bei genauerer Betrachtung eine Vielzahl an inneren und äußeren Aspekten, die im Zusammenklang unsere Identität ausmachen und uns das Empfinden von Kontinuität, von Sicherheit und Selbstwert vermitteln.
Nehmen wir an, wir haben ein Selbstbild von Stärke und Leistungsfähigkeit. Wenn wir diesem Bild entsprechen können, fühlen wir uns mit unserer Identität im Einklang und damit stabil und wertvoll. Wenn wir jedoch mit Schwäche konfrontiert sind, verunsichert uns das und wir fühlen uns schnell als wertlos. Genauso gibt es uns Halt, wenn wir einen guten Platz in Beziehungssystemen haben. Löst sich diese Zugehörigkeit plötzlich auf, wird der innere Halt der Identität und unser Selbstwert zu einem schwankenden Boden.
Wir sind nicht festgelegt
Nun ist die Identität keineswegs ein feststehendes Gebäude, das uns eindeutig definiert, wie man im ersten Moment glauben könnte. Im Gegenteil können sich zentrale Aspekte, die lange Zeit unser Selbstgefühl bestimmen, grundlegend verändern. Es kann zum Beispiel sein, dass für eine gewisse Zeit der berufliche Erfolg für uns die höchste Wertigkeit besitzt. Doch dann, nach der Gründung einer Familie oder einem Schicksalsschlag kann sich das innere Wertesystem radikal verschieben. Plötzlich sind uns die Kinder oder Freundschaften viel wichtiger als der Beruf.
Nicht nur unsere Werte und Selbstbilder, sondern alles, was uns scheinbar definiert, kann (und wird) sich im Laufe unseres Lebens ändern: Unser Körper wird älter, Beziehungen ändern sich, wichtige Rollen lösen sich auf und Objekte, die wir besitzen, gehen kaputt und neue werden erworben. Jedes Mal, wenn sich etwas grundlegend verändert, das mit unserer Identität verknüpft ist, muss das innere Haus umgebaut werden. Wir durchlaufen dabei eine Phase der seelischen Verarbeitung und Verunsicherung, bis wir uns innerlich wieder neu eingerichtet haben. Je schneller sich das äußere Umfeld verändert (im eigenen Leben oder auch in der Gesellschaft), desto gravierender wirkt sich das auf das Identitätsgefühl und damit unser Empfinden von Sicherheit und Selbstwert aus. Doch es hilft nichts. Wenn wir uns nicht im alten Weltbild einigeln und damit verhärten und verbittern wollen, müssen wir anerkennen, dass das innere Haus der Identität eine Dauerbaustelle ist.
Fließende Offenheit
In einer Zeit nun, in der sich gesellschaftliche Werte, vertraute Rituale und Zugehörigkeiten sehr schnell wandeln, wird daher auf einer kollektiven Ebene das Identitätsgefühl verunsichert und die Gefahr von Verhärtungen steigt. Denn auch im Festhalten an alten Strukturen und im Widerstand gegen … können wir einen neuen Halt in uns aufbauen und mit anderen Menschen, die sich auch durch Widerstand definieren, ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln.
Um nicht in die Falle der Verhärtung zu tappen, gibt es nur einen Weg: Die Verunsicherung als eine natürliche Phase von innerer Entwicklung anzuerkennen und sie zur Freundin zu machen. Dort, wo wir verunsichert sind, lösen sich alte Identifikationen auf. Wenn wir diese Momente wertschätzen und sie zulassen, wird sich daraus ganz natürlich mit der Zeit eine fließende Offenheit entwickeln, die es uns ermöglicht, in den Veränderungen und Umbrüchen des Lebens weich zu bleiben und immer wieder neu unseren natürlichen Platz im sich stetig verändernden Fluss des Lebens zu finden.
Je oberflächlicher ich bin, desto berechenbarer werde ich.
Je tiefer und lebendiger ich bin, desto unberechenbarer und offener werde ich.
Hans-Peter Dürr
ÜBUNG: Ein Spaziergang in die Offenheit
- Nimm dir eine halbe Stunde Zeit und mach einen Spaziergang in der Natur.
- Lass dabei nacheinander wichtige Dinge auftauchen, wodurch du dich innerlich oder äußerlich definierst. Frage dich immer wieder: Was macht mich und mein Leben aus? (z.B. Selbstbilder, Beruf, Hobbies, Rollen, die du bekleidest, Besitz, den du liebst, …) Lass zu dieser Frage eine Sache auftauchen und suche dir in der Natur ein Symbol dafür. (z.B. ein Stein oder ein Ast)
- Betrachte das Symbol und fühle dabei die Bedeutung dieser Sache für dein Leben. Dann lege sie symbolisch mit dem Gegenstand ab und lass die nächste wichtige Sache auftauchen, die dich ausmacht …
- Fahre mit dem symbolischen Ablegen fort, bis nichts mehr Neues auftaucht.
- Wenn alles abgelegt ist, suche dir einen Ort, der dich anzieht und lausche hier in vollkommener Offenheit. Was breitet sich dabei innerlich aus? Lass dir Zeit, die Offenheit zu verkosten…
- Dann geh den gleichen Weg zurück und nimm alle Dinge, die du zuvor abgelegt hast, wieder an dich. Lass dich dabei überraschen, wie es sich anfühlt und was dabei innerlich geschieht …