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Achtsames Leben – Was will mir das Leben mitteilen?

von Richard Stiegler

Wie leicht nimmt man doch unbequeme Ereignisse und Schicksalsschläge persönlich? „Was will mir die Krankheit sagen? Welche Botschaft hatte der Unfall?“ So fragen wir uns. Aber nehmen wir uns damit nicht allzu wichtig? Als ob das Leben nichts Besseres zu tun hätte, als uns persönlich Lektionen zu erteilen?

Im Buddhismus gibt es das Konzept der acht Winde, die mal von der einen und mal von der anderen Seite blasen – wie der Wind eben ist: launisch und unberechenbar. Zu den acht Winden zählen so gegensätzliche Erfahrungen wie Erfolg und Misserfolg, Anerkennung und Kritik, Gewinn und Verlust, Gesundheit und Krankheit. Wenn ein Sturm heftig aus einer Richtung bläst, fühlen wir uns dann persönlich angegriffen? Könnte es sein, dass auch Schicksalsschläge viel unpersönlicher sind, als wir das normalerweise empfinden?

 

Wie die Dinge nun mal sind

Wenn wir unsere Augen öffnen und unseren Blick über unser persönliches kleines Leben hinaus weiten, erkennen wir sehr schnell, dass nicht nur wir immer wieder mit schwierigen Ereignissen konfrontiert werden. Vielmehr sind in allen individuellen Lebenssituationen, die uns und andere herausfordern, natürliche existenzielle Begrenzungen wirkmächtig. Sobald wir dies anerkennen und uns mehr und mehr mit diesen existentiellen Wahrheiten des Lebens anfreunden, fühlen wir uns weniger als Opfer der Umstände.

Natürlich haben Menschen Wünsche und sehnen sich nach einem „guten“ Leben, in dem sie verschont werden. Das ist sehr menschlich und sehr verständlich. Aber das Leben ist kein romantischer Rosengarten und auch eine spirituelle Praxis wie die Meditation bietet keine Rettung vor den existenziellen Tatsachen (wie manche Menschen denken), sondern ist im Kern ein existenzielles Schauen, das uns die Möglichkeit gibt, Frieden mit den Lebensgesetzen zu schließen.

 

Mit den Jahren habe ich ein neues Glück entdeckt.
Es besteht darin, mit den Lebensgesetzen im Einklang zu sein.
– Ruth Rau

 

Eine kleine Liste von existentiellen Wahrheiten

Wenn wir uns mit dem Leben anfreunden wollen, ist es daher hilfreich, uns mit den grundlegenden Lebensgesetzen zu beschäftigen. Obwohl jeder Mensch sie kennt, da sie in jedem Leben und in vielen Ereignissen präsent sind, neigen wir doch alle dazu, diese Gesetzmäßigkeiten aus dem Blickfeld zu verbannen und Ereignisse nur als individuelle Schwierigkeiten zu betrachten. Um uns das Existenzielle wieder ins Bewusstsein zu holen, habe ich daher im Folgenden eine kleine Liste dieser grundlegenden Dimension zusammengestellt:

 

1 – Es geht nicht immer nur aufwärts

Gibt es ewiges Wachstum? Sind nicht auch Weltreiche wieder untergegangen? Keine Bergtour besteht nur aus einem Aufstieg. Doch wir beschweren uns, wenn’s mal wieder abwärts geht und wir uns verkleinern müssen. Tatsächlich ist es so: Manchmal gewinnt man und manchmal verliert man. Manchmal bauen wir etwas auf und dann stürzt es wieder ein. Einatmen und Ausatmen.

 

2 – Wer sich bewegt, macht Fehler

Kennst du einen Menschen, der frei von Schwächen und Fehlern ist? Das Ideal von Vollkommenheit wird von vielen Menschen angebetet und angestrebt, aber Perfektion ist wie jedes Ideal ein Fixstern am Himmel. Wir können uns daran orientieren, diesen aber niemals erreichen. Wir sind und bleiben als Menschen unvollkommen. Das ist es letztlich auch, was uns zum Menschen macht.

 

3 – Wer lebt, stört

Sobald wir lebendig sind und handeln, haben wir eine Wirkung. Jedoch haben wir keine Kontrolle darüber, wie unser Handeln auf andere wirkt (übrigens auch nicht, wenn wir achtsam sind). So werden wir immer wieder für andere Geschöpfe schwierig sein oder sogar andere verletzen. Mit anderen Worten, wir machen uns immer wieder schuldig (= ursächlich mitverantwortlich für bestimmte Ereignisse). Wir sind ins große Netz von Ursache und Wirkung eingewoben – ob uns das passt oder nicht.

 

4 – Wer einen Körper hat, ist zerbrechlich

Der menschliche Körper und die menschliche Seele sind zutiefst verletzlich. Daher werden wir Schmerzen, Verletzungen und Krankheiten erleben. Das ist natürlich. Auch Erleuchtete werden krank, haben Zahnschmerzen und sterben. Buddha hat uns nicht Leidfreiheit von primärem Leiden (wie Krankheiten) versprochen, sondern nur die Möglichkeit, vom Leiden, das durch Identifikationen entsteht, frei zu werden.

 

5 – Kontrolle gibt es nur als Idee

Wie sehr versuchen Menschen doch, mithilfe ihres Verstandes Kontrolle über das Leben zu erlangen? Dabei können wir nicht einmal kontrollieren, welcher Gedanke oder welches Gefühl als nächstes in uns auftaucht. Das große Netz der Schöpfung hat eine so ungeheure Komplexität, dass es niemals möglich ist, dieses lebendige Geschehen zu kontrollieren. Daher ist das Gefühl der Ohnmacht (= ohne Macht zu sein) ein höchst natürliches und weist nicht auf ein persönliches Versagen hin. Wir können lernen, uns anzuvertrauen und uns hinzugeben, aber der Versuch, das Leben (oder uns selbst) in den Griff zu bekommen, ist zum Scheitern verurteilt.

 

6 – Wer Bedürfnisse hat, kennt auch Mangel

Alle Menschen (und auch andere Geschöpfe) haben körperliche, seelische und soziale Bedürfnisse. Das ist normal. Allerdings gibt es auf einer existentiellen Ebene keinerlei Garantie, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden. Manche werden erfüllt und manche nicht. Das ist auch normal. Das Gefühl des Mangels (also, dass uns etwas fehlt) ist daher weder persönlich noch besonders ungewöhnlich.

 

7 – Wer lebt, wird sich ändern

Eigentlich ist es offensichtlich, dass wir uns äußerlich und innerlich verändern. Und doch haben Menschen meist das Gefühl, die gleiche Person zu bleiben bzw. bleiben zu wollen. Wir klammern uns an Objekte, an Rollen und an alte Selbstkonzepte wie an Strohhalme im reißenden Fluss. Gibt es irgendetwas, das gleich bleibt? Wieso sollte das bei uns anders sein? Eine feststehende Identität ist damit schlicht eine Illusion, die noch dazu viel Leiden erzeugt.

 

8 – Wir sind allein

Eine wesentliche Sehnsucht des Menschen ist die nach Verbundenheit. Wir suchen sie in Liebesbeziehungen, in der Familie, in Gemeinschaften und in uns. Bereits die Omnipräsenz dieser Sehnsucht zeigt uns, wie oft Menschen sich einsam und getrennt fühlen. In jeder Krise werden wir auf uns selbst zurückgeworfen und fühlen eine fundamentale Einsamkeit, die wir durchschreiten müssen. Sogar wenn wir tief nach innen gehen, müssen wir an einem grundlegenden Alleinsein vorbei, bevor sich die Pforten zur Stille öffnen. Wohl dem, der sich mit seiner Einsamkeit anfreundet, denn sie wird uns bis in den Tod hinein begleiten. Auch gestorben wird allein.

 

9 – Alles Leben ist begrenzt

Alles vergeht – nichts bleibt. Das, was wir lieben, wird vergehen und das Schwierige auch. Wir können nichts festhalten – nicht einmal einen einzigen Atemzug. Und: wir können nichts mitnehmen. („Das letzte Hemd hat keine Taschen.“) Vergänglichkeit ist die existenzielle Grenze schlechthin. Dabei geht es nicht nur um den physischen Tod als letzte Grenze, sondern um das Sterben in jedem Augenblick.

 

Die Betrachtung der Vergänglichkeit ist das zentrale Tor auf dem spirituellen Weg. Dabei geht es letztlich nicht um religiöse Glaubenskonzepte, was etwa nach dem Tod kommt (um damit die Vergänglichkeit zumindest gedanklich zu überwinden), sondern darum, in Einklang mit dieser Gesetzmäßigkeit zu kommen und das Anklammern an alle Form zu überwinden.

 

Eine Erinnerung zum Schluss

Bei der Betrachtung dieser fundamentalen Gesetzmäßigkeiten dürfen wir eines nicht vergessen: Nur im ersten Moment erscheinen uns existentielle Wahrheiten als unerbittliche Begrenzungen, die uns Liebgewonnenes entreißen wollen. Wenn wir uns jedoch (manchmal nach einem längeren Prozess des Kampfes und Leidens) darauf einlassen und tiefer zustimmen, entpuppen sie sich als Tore in die spirituelle Dimension des Lebens, in der sich essenzielle Qualitäten wie Unmittelbarkeit, Vertrauen, Freiheit, Frieden, Mitgefühl und Verbundenheit in unserer Seele öffnen. Von hier aus sieht die Welt anders aus…

 

ÜBUNG: Die existentielle Wahrheit in individuellen Situationen betrachten

  • Lass ein Ereignis auftauchen, das dich persönlich schmerzt oder herausfordert.

  • Mach dir bewusst, welche Gefühle damit verbunden sind und gib ihnen Raum.

  • Dann betrachte das Ereignis tiefer: Welche existentielle und damit universelle Wahrheit liegt in diesem Ereignis verborgen?

  • Lege jetzt das konkrete Ereignis zur Seite und schau nur auf diese existentielle Wahrheit darin. Kannst du ihr zustimmen? Oder kämpfst du dagegen an?

  • Wenn du dieser existentiellen Wahrheit zustimmst und damit im Einklang bist, was breitet sich dann innerlich aus? Tauche tiefer in dieses Erleben hinein und gib ihm einen Gestaltausdruck…

  • Wie lebst du, wenn du im Einklang mit dieser existentiellen Gesetzmäßigkeit bist? Und wie schaust du dann auf das konkrete Ereignis, das du zu Beginn gewählt hast?

  • Nimm diese Gesetzmäßigkeit bewusst in dein alltägliches Leben mit. Betrachte über mehrere Tage, wo und wie du ihr im Alltag begegnest. Wie verändert dich das?

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