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Achtsames Leben – Und immer wieder der Größenwahn

von Richard Stiegler

Ist es nicht erschütternd, wie Putin und seine kleine Macht-Clique einen Krieg gegen die Ukraine entfesseln und dabei den Tod und die Not von vielen tausenden von unschuldigen Menschen in Kauf zu nehmen? Und das alles wegen Großmachtsphantasien. Kommt uns das nicht bekannt vor? Träumte nicht auch Serbiens ehemaliger Staatschef Slobodan Milošević vom „Großserbischen Reich“, als er zum Kriegsverbrecher wurde? Ganz zu schweigen von Hitlers Allmachtsphantasien und seinem menschenverachtenden Regime. Doch wir finden das Streben nach Größe nicht nur in der Politik. Denken wir doch an den ehemaligen VW-Chef Winterkorn, der VW zum weltweit größten Autokonzern machen wollte. Das Ergebnis kennen wir: der Abgasskandal. Wenn wir in die Geschichte schauen, ließe sich diese Liste unendlich fortsetzen.

Größenphantasien finden sich in allen Bereichen des Lebens. Sogar manche spirituellen Lehrer*innen (und es sind in diesem Fall fast immer Männer) setzen sich ganz groß in Szene, so dass man den Eindruck gewinnt, dass es mehr um die Person des Lehrers geht als um die Menschen und um den spirituellen Weg. Nicht selten führt das zu Entgleisungen gegenüber Schüler*innen, die oft erst viel später aufgedeckt werden. Die Vision von eigener „Größe“ scheint also eine enorme Verführungskraft und gleichzeitig ein großes destruktives Potential zu beinhalten. Warum ist das so?

 

Wieso bauen sich Menschen Paläste?

Wieso ist die eigene Größe so verführerisch? Wieso wollen Menschen die Größten, die Tollsten, die Reichsten oder die Erfolgreichsten sein? Wieso wollen wir immer etwas „Besonderes“ sein? Wieso bauen sich Menschen im übertragenen und manchmal auch im wörtlichen Sinne Paläste?

Dazu müssen wir uns bewusst machen, was Größenphantasien zugrunde liegt. Nämlich immer das Gefühl der eigenen Kleinheit und Unvollkommenheit und darin ein Gefühl der Wertlosigkeit. Wer in seiner Natürlichkeit keinen Wert empfindet, der muss sich selbst wie ein Pfau zur Schau stellen und seinen Wert künstlich aufbauen. Es gibt viele Muster, die sich Menschen unbewusst zulegen, um wertvoll oder bedeutend oder als etwas Besonderes zu erscheinen.

 

Von der Sehnsucht nach dem „Besonderssein“

Wenn wir uns klein und wertlos fühlen, fühlen wir uns auch nicht selten von scheinbarer Größe angezogen und sind entsprechend verführbar. Das Fatale dabei ist, dass diese Egomuster so stark werden können, dass wir dabei nur noch uns und unsere Größe im Blick haben und andere Menschen und ihre Bedürfnisse ausblenden. So kann es sehr schnell dazu kommen, dass wir bereit sind, über Leichen zu gehen – natürlich im metaphorischen Sinne, manchmal aber sogar – wie im Fall von Diktatoren – im buchstäblichen Sinne.

Die Dynamik, die eigene Kleinheit und Wertlosigkeit mit Größe, Allmacht und Selbstbezogenheit zu kompensieren, nennt man in der Psychologie den Narzissmus. Wer nun denkt, dass er oder sie damit nichts zu tun hätte, täuscht sich, denn wir haben alle mehr oder weniger narzisstische Anteile, die manchmal überhandnehmen können. Wer sehnt sich nicht manchmal heimlich danach, ein Superstar oder eine Schönheitskönigin, das Superhirn oder die Super-Erfolgreiche zu sein? Jede Art von „Besonderssein“ eignet sich dazu, das Gefühl der eigenen Kleinheit zu kompensieren. Daher ist es ungeheuer wichtig, dass wir uns dieser Gefahr bewusst sind.

 

Wie aus Narzissmus Machtmissbrauch entsteht

Vor allen Dingen dann, wenn wir verantwortungsvolle Rollen in der Öffentlichkeit – zum Beispiel als Politiker*in, als Chef*in oder Lehrer*in – bekleiden, ist es besonders wichtig, dass wir uns dieser Gefahr bewusst sind. Immer dann nämlich kann es geschehen, dass unsere narzisstischen Anteile durch die viele Aufmerksamkeit, die wir in dieser exponierten Position bekommen, wie innere Monster gefüttert werden und irgendwann so groß sind, dass sie das Kommando übernehmen. Spätestens dann kippt etwas um: Wir dienen dann in unserer Rolle nicht mehr den Menschen, sondern fühlen uns großartig und haben das Gefühl, dass sich alles nur noch um uns dreht. Dass dabei in der Folge sehr leicht Machtmissbrauch geschehen kann, liegt auf der Hand.

 

Den wahren Wert nähren

Was können wir also tun, um das Monster des Narzissmus in uns im Zaum zu halten? Hilfreich dazu ist, dass wir uns unserem Selbstwertloch stellen und gleichzeitig unseren wahren Wert als Mensch nähren. Dieser besteht eben nicht darin, dass wir besondere Eigenschaften haben oder besondere Rollen verkörpern. Der wahre Wert hat schon gar nichts mit Größe oder Großartigkeit zu tun. Ist etwa eine Narzisse wertvoller als ein Gänseblümchen?

Wenn wir unser Herz öffnen, sehen wir sofort, dass der wahre Wert in der Natürlichkeit, der Einfachheit und Lebendigkeit eines jeden Wesens liegt. Jedes Geschöpf, ob klein oder groß, trägt diesen Wert in sich. Man kann ihn nicht mehren oder mindern. Man kann ihn aber erkennen oder missachten. Wenn wir in Liebe und in einer kontemplativen Haltung irgendein Tier, eine Pflanze oder einen Menschen betrachten, werden wir die innere Schönheit, die Würde und das Wunder sehen, das in jedem noch so unscheinbaren Geschöpf lebt. Können wir diese Würde und diese innere Schönheit in uns spüren?

 

 

ÜBUNG: Wie wir dem Ego und dem eigenen Größenwahn den Boden entziehen

In der folgenden Liste habe ich zentrale Aspekte einer spirituellen Haltung zusammengefasst, die eine Tendenz zum Narzissmus eindämmen können. Als Achtsamkeitsübung könnten wir jeweils einen Tag lang einen dieser Aspekte vergegenwärtigen und damit durch den Tag gehen.

  1. Misstraue großen Visionen, orientiere dich an der schlichten Gegenwart

    Viele Jahre lang wurde von Coaches weltweit immer wieder das Motto „Think big“ propagiert und dabei dem heimlichen Größenwahn Vorschub geleistet. Daher misstraue großen Visionen, oder anders formuliert: „Don`t think big!“ Orientiere dich vielmehr an der schlichten Gegenwart und nähre das, was natürlicherweise entstehen will. Denke immer daran, dass es um die Qualität deines Daseins und deine Sorgfalt für die Dinge geht. Es geht niemals um Quantität. Wachstum entsteht natürlich, wenn wir die Qualität des Daseins nähren.
      • Wie ändert sich dein Erleben und dein Handeln, wenn du auf die Qualität deiner Aufmerksamkeit oder deines Handelns achtest, und nicht auf Quantität des Ergebnisses?
  1. Glaube nicht deiner Euphorie, handle aus Gelassenheit

    Euphorische Gefühle sind verführerisch und vermitteln uns, dass wir oder das Leben toll sind. Sie sind jedoch nichts weiter als Emotionen, welche uns abheben lassen. Daher pflege die Sammlung und den Kontakt nach innen. Der kluge Mensch handelt niemals aus Euphorie (oder aus dem Pendant der Empörung), sondern aus Gelassenheit und Mitgefühl.
      • Achte auf den Kontakt nach innen. Wie lebst und handelst du aus Gelassenheit? Wo und wann verlierst du sie?
  1. Es existiert nicht nur die eine Wahrheit, das Leben ist vielschichtig

    Wie schnell sind wir davon überzeugt, dass unsere Ideen und unsere „Wahrheit“ die einzig richtigen und seligmachenden sind. Dieser Glaube führt dazu, dass wir uns über andere erheben. Daher denke immer daran: Das Leben ist vielschichtig. Keine Idee, keine Vision, kein System und keine Regel ist absolut. Unsere Wahrheit ist daher nur eine Perspektive. Nimm sie ernst, aber nicht so wichtig und schon gar nicht als absolut. Frage dich bei großen Ideen oder Ideologien, ob sie dem einzelnen Menschen dienen.
      • Achte darauf, wann du überzeugt bist, dass deine Wahrheit die einzig Richtige ist: Was macht diese Überzeugung im Kontakt mit anderen? Arbeite dann mit der Frage: Was ist stimmig an anderen Perspektiven?
  1. Du bist einzigartig, aber nichts Besonderes

    Halte dich nicht für etwas Besonderes. Jedes Gänseblümchen ist einzigartig. Daher bleib natürlich und bau kein besonderes Image um dich herum auf (auch kein Spirituelles). Entwickle eine Liebe für die Schlichtheit und Natürlichkeit der Dinge. Dann wirst du den wahren Wert in dir selbst und in jedem Grashalm entdecken lernen.
      • Lausche auf die Natürlichkeit und Schlichtheit in allem, was dir begegnet. Kannst du die Schönheit darin entdecken? Frage dich selbst: Worin besteht gerade meine eigene Natürlichkeit? Hinter welchen Masken oder Selbstbildern verstecke ich mich?
  1. Es geht nicht ohne dich, aber es geht nicht um dich

    Das Leben braucht dein Dasein, deine Liebe und deinen Einsatz. Aber dein Leben hat keinen Selbstzweck und du stehst mit deinen Bedürfnissen nicht im Mittelpunkt. Mach dir immer bewusst, dass dein Leben in einen größeren Kontext eingebettet ist und über dich hinausweist. Daher stelle dich in den Dienst und entdecke die Freude der Selbstlosigkeit. Wenn du mit deinem Dasein anderen Menschen und dem Leben dienst, steht nicht das „Ich“ im Zentrum – selbst dann nicht, wenn du eine besondere Rolle einnimmst, bei dir du viel Aufmerksamkeit bekommst. Die Haltung des Dienens schützt vor Machtmissbrauch und lässt uns gleichzeitig unsere wahre Stärke erfahren, die immer über unser kleines Leben hinausweist.
      • Überprüfe immer wieder dein Handeln: Machst du es für dich oder stellst du dich in den Dienst? Steht im Zentrum das „Ich“ und „meine“ Bedürfnisse oder steht die Sache oder andere Menschen im Zentrum deines Lebens? Erforsche, welche Wirkung es hat, wenn dein Handeln über dich hinausweist?
  1. Kümmere dich nicht nur um die „wichtigen“ Dinge

    Was ist wirklich wichtig? Wenn wir diese Frage erkunden, werden wir merken, dass die sogenannten „wichtigen“ oder „bedeutenden“ Dinge nur darum wichtig scheinen, da sie in unserem oder dem gesellschaftlichen Wertesystem hoch angesiedelt sind. Daher kümmere dich nicht nur um die „wichtigen“ Dinge, sondern schenke jeder Kleinigkeit größtmögliche Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Denke daran, dass wir den Dingen Wert geben und nicht umgekehrt. Ein Kieselstein ist genauso wertvoll wie ein Diamant, wenn du ihn als Kostbarkeit behandelst.
      • Behandle alles „Unwichtige“ und „Unscheinbare“ als Kostbarkeit und lass dich überraschen, was sich dadurch im Erleben verändert.
  1. Lass dich nicht verführen, achte auf die innere Stimmigkeit

    Wie leicht sind wir durch Ansehen, durch Geld, durch eine machtvolle Rolle oder durch unseren Ehrgeiz verführbar? Doch nichts davon hat mit unserem wahren Wert zu tun. Daher achte auf das, was natürlicherweise aus dir heraus leben und sich entfalten will. Wenn dir etwas angeboten wird, lausche auf dein Herz, ob es wirklich stimmig ist. Nur wer aus der inneren Stimmigkeit heraus lebt, wird dem eigenen Wesen treu bleiben und friedlich im Einklang mit dem größeren Ganzen leben können. Daraus entstehen Zufriedenheit und innerer Reichtum, nicht durch Ansehen, Geld oder Macht.
      • Achte auf den Kompass deiner Seele: Wann sagt dein Herz, dass etwas gerade tiefer stimmt? Wie ist jetzt gerade dein natürlicher Rhythmus? Wann und wodurch wirst du verführt, die innere Stimmigkeit und deine Natürlichkeit zu verlassen?
  1. Baue nicht auf das Gefühl der eigenen Stärke, denn aus dir heraus bist du nichts

    Was auch immer wir bereits geleistet haben oder worauf auch immer wir stolz sind, es ist bei näherer Betrachtung nicht unser Verdienst. Das Potential für diese Leistung wurde uns geschenkt und die Umstände haben es ermöglicht, dass es sich entfalten konnte. Daher mach dir immer bewusst: Aus dir heraus bist du nichts! Sei dankbar. Alles, alles, alles wird dir geschenkt und fließt dir zu. Je tiefer du das erkennst, desto weniger wirst du auf deine persönliche Stärke und deinen Stolz bauen. Vielmehr wirst du dich als Mensch in die Schöpfung einfügen. So werden wir immer tiefer aus dem Vertrauen, der Verbundenheit und aus der Dankbarkeit heraus leben lernen.
      • Lerne, aus der Dankbarkeit heraus zu leben! Mach dir bewusst, wie dir alles zufließt: Jeder Gedanke, jede Handlung, jede Wahrnehmung und jede Begegnung werden dir geschenkt. Wie verändert dich diese Erkenntnis?

Es macht heiter, zu wissen, dass jeder Recht hat mit sich selbst.
Schön ist es, älter zu werden, erlöst von sich,
von der gewaltigen Anstrengung „etwas zu werden“,
etwas darzustellen in dieser Welt,
gelassen sich irgendwo einzufügen, wo gerade Platz ist
und überall man selbst zu sein
und zugleich weiter nichts als einer von acht Milliarden Menschen.

Nach Luise Rinser