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Achtsames Leben – Freiheit – ein Mythos?

von Richard Stiegler

Freiheit ist eine zentrale Sehnsucht des Menschen. Obwohl wir in einer der reichsten und sichersten Gegenden der Welt leben und der Staat uns zusätzlich Freiheitsrechte garantiert, heißt das noch lange nicht, dass wir uns innerlich frei fühlen. Manchmal werden wir von den vielen Pflichten des Alltags regelrecht niedergedrückt. Vielleicht fühlen wir uns durch körperliche Beschwerden eingeschränkt. Oder wir haben das Gefühl, dass wir nicht die Unterstützung bekommen (haben), die wir zur Entfaltung unseres Wesens benötigen? Es ließe sich vieles anführen, das innerlich oder äußerlich unsere Freiheit begrenzen kann. Wie soll man sich da frei fühlen?

 

Wenn es weit wird

Obwohl es auf vielen Ebenen unseres Menschseins Einschränkungen geben kann und wir uns nicht selten eingeengt, unter Druck oder unfrei fühlen, kennen wir natürlich auch Momente, in denen uns alle Last des Lebens von den Schultern genommen scheint und uns innerlich Flügel wachsen. Der innere Raum weitet sich spürbar und es weht eine Leichtigkeit – ein frischer Wind – durch Körper und Seele. Was geschieht hier?

Haben sich in diesen glücklichen Momenten alle Beschränkungen und Schwierigkeiten des Lebens aufgelöst? Wahrscheinlich nicht. Und doch scheinen sie keine Macht mehr über uns zu haben. Offensichtlich gibt es eine innere Freiheit, die unabhängig von den äußeren Beschränkungen unseres alltäglichen Lebens existiert.

 

Was uns die Luft nimmt

Das bedeutet, wichtiger als die äußeren Beschwerlichkeiten des Lebens sind innere Beschränkungen, die dafür verantwortlich sind, ob wir uns frei und unbeschwert oder uns eingeengt und von den Umständen niedergedrückt fühlen. Diese Erkenntnis ist eine gute Botschaft, denn bei äußeren Widrigkeiten haben wir nur selten die Macht, sie zu ändern. Aber innere Einschränkungen können sich im Lichte der Bewusstheit auflösen.

Der erste Schritt dazu ist, klar zu sehen, was unseren inneren Raum einengt. Was lässt uns eng werden, wenn etwas nicht so klappt, wie wir das gerne hätten? Was nimmt uns die Luft, wenn wir uns vor lauter Pflichten nicht mehr spüren? Was drückt uns zu Boden, wenn uns ständig Sorgen im Kopf herumgehen? Es sind unsere Ansprüche, mit denen wir uns identifizieren.

 

Von Bedürfnissen und Ansprüchen

Wenn wir von Ansprüchen sprechen, müssen wir uns zunächst bewusst machen, wie diese entstehen und welche Macht sie über uns haben. Wir alle haben verschiedenste Bedürfnisse und Vorstellungen. Das ist natürlich und schränkt unseren Raum noch lange nicht ein. Wenn aber aus einem Bedürfnis ein Anspruch wird, wir also ein Recht daraus ableiten, dass ein anderer Mensch oder das Leben unsere Bedürftigkeit erfüllen sollte, werden wir hart und eng. Genauso ist es mit unseren Vorstellungen und Plänen. Jeder Mensch hat Ideen und Konzepte, wie er sich das Leben und die Zukunft wünscht. Aber wenn diese Vorstellungen zu Ansprüchen gerinnen, wir also denken, dass das Leben so werden muss, wie wir es für richtig halten, werden wir starr und verlieren die Möglichkeit, mit dem lebendigen Fluss der Ereignisse mitzufließen.

Ansprüche entstehen als Folge einer Identifizierung mit Bedürfnissen und Ideen. Sie haben eine rein geistige Struktur, können aber unglaublich machtvoll sein und uns lange Zeit bestimmen. Denken wir nur an Verletzungen und Mangelgefühle aus der Kindheit. Noch Jahrzehnte danach können sie unser Gefühl von Freiheit einschränken, wenn wir unsere Eltern nicht aus dem kindlichen Anspruch entlassen.

 

Uns selbst entlassen

Innerlich frei können wir also nur werden, wenn wir erkennen, dass nicht der Alltag, nicht die Kollegin, nicht der Partner, nicht unsere Kinder oder unsere Eltern und auch nicht die Politik oder die Weltlage uns einschränken, sondern wir uns selbst durch unsere Ansprüche verengen. Sobald wir die anderen Menschen (oder Ereignisse) aus unseren Ansprüchen entlassen – oder vielleicht besser formuliert: wir uns selbst aus unseren Ansprüchen entlassen –, weitet sich der Raum der Seele und wir können wieder durchatmen.

Und was machen wir mit unseren unerfüllten Bedürfnissen und nicht eingetretenen Vorstellungen? Verschwinden sie dadurch? Sicher nicht sofort. Aber sie verlieren an Macht und Bedrohlichkeit. Mit einem unerfüllten Bedürfnis kann man in Würde und in Freiheit leben. Wenn dieser Mangel aber zu einem Anspruch wird, verlieren wir sowohl unsere Würde als auch unsere Freiheit.

Abgesehen davon belasten wir durch unsere Ansprüche auch unsere Beziehungen und bringen viel Unfrieden in die Welt. Stellen wir uns doch einmal vor, wie die Welt aussehen würde, wenn wir Menschen uns gegenseitig aus unseren Ansprüchen entlassen könnten?

 

Jede Gewohnheit wird zur Selbstverständlichkeit.
Jede Selbstverständlichkeit wird zum Anspruch.
Jeder Anspruch führt in die Enttäuschung.
Jede Enttäuschung ist ein Tor in die Freiheit.
Richard Stiegler

 

ÜBUNG: Sich aus den Ansprüchen entlassen

  • Lass eine wichtige Person (oder eine Situation) aus deinem Leben auftauchen, welche dich gefühlt einschränkt oder belastet oder schwierig für dich ist?
    Visualisiere diese Person: Wie erscheint sie dir? Welche Ausstrahlung hat sie?
    Spür jetzt, welche Gefühle in dir im Kontakt auftauchen. Gib allen Emotionen Raum und gestatte sie dir. Du darfst fühlen, was du fühlst!

  • Wenn du deinen Gefühlen zu dieser Person einen körperlichen Gestaltausdruck geben würdest, wie sähe das aus? Nimm diesen Gestaltausdruck ein und lass Worte dazu auftauchen. Spüre dann, mit welchem Tonfall du diese Worte aussprichst.

  • Dann halte inne und frage dich, welcher Anspruch sich in diesen Gefühlen verbirgt. Wie soll diese Person für dich sein, dass es angenehmer wäre? Lass dazu einen Satz entstehen.

  • Spüre jetzt, in welche innere Welt du kommst, wenn du vollkommen in diesem Anspruch gefangen bist. Was macht es mit dir? Was macht es mit dem Kontakt?

  • Dann atme alle Ansprüche aus. Atme tief durch und entspanne dich. Fühle, was spontan entsteht, wenn du dich von diesem Anspruch frei machst und die Person aus diesem Anspruch entlässt: Also, wenn du zustimmst, dass du kein Recht darauf hast, dass die Person so wird, wie du es möchtest. (Du bist ja wahrscheinlich auch nicht so, wie die andere Person es möchte.) Was breitet sich dann spontan in Körper und Seele aus? Tauche tiefer in diese Qualität hinein…

  • Wie kannst du selbst sein und wie kannst du im Kontakt mit der Person sein, wenn du von allen Ansprüchen frei bist?