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Achtsames Leben – Wann, wann, wann?
von Richard Stiegler
8. März 2021
Und wieder stagnieren trotz wochenlanger Beschränkungen die Corona-Zahlen und in Deutschland wird der Lockdown verlängert. Allerorts wächst täglich spürbar eine drängende Ungeduld: Wann kehren das normale Leben und unsere gewohnten Freiheiten zurück? Nach einem Jahr der Pandemie mit Kontakt- und Reisebeschränkungen, kultureller Enthaltsamkeit, Homeoffice, Homeschooling und vielen anderen Entbehrungen sind die meisten Menschen einfach mürbe. Und doch befinden wir uns offensichtlich noch nicht am Ende dieser langen kargen „Winterzeit“ und wir wissen nicht, wie lange sie noch andauern wird. So bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten. Wohl denen, die jetzt geduldig sind!
Ist Warten vergeudete Zeit?
Höchste Zeit, sich ein paar Gedanken über das Warten zu machen. Schließlich steht das Warten in unserer Gesellschaft, die so sehr die Beschleunigung liebt, nicht gerade hoch im Kurs. Vielmehr hat man den Eindruck, dass alles dafür getan wird, noch schneller zu kommunizieren, zu konsumieren und zu produzieren. Momente des Müßiggangs, in denen nichts geschieht, erscheinen in diesem Licht als eine altmodische und unnütze Lebensweise, die uns Lebensintensität raubt. Entsprechend füllen wir die scheinbar sinnlose Zeit des Wartens dank Handy, Radio, Fernsehen und Internet mit Medienkonsum auf. Auf diese Weise entgehen wir im Warten dem unangenehmen Gefühl der Leere.
Doch was bedeutet es eigentlich, zu warten? Und ist es wirklich eine Vergeudung von Lebenszeit? Wenn wir unser alltägliches Leben genauer betrachten, werden wir feststellen, dass es viele kleine und große Momente des Wartens gibt. Wir warten auf den Bus oder auf einen Besuch. Manchmal warten wir auf den lang ersehnten Urlaub und manche Menschen auf die Pension. Zurzeit wartet alle Welt auf das Ende der Pandemie mit all ihren Einschränkungen. So schielen wir im Warten immer auf das Kommende. Dort, in der Zukunft, liegt das große Versprechen. In der Zukunft scheint das Leben stattzufinden. Und während wir auf die Zukunft fixiert sind, zieht das gegenwärtige Leben still und unbemerkt an uns vorüber.
Sehnsuchtsort Zukunft
Warten ist also eine Haltung, in der unsere Aufmerksamkeit auf das Kommende ausgerichtet ist. Und je intensiver wir die Zukunft ersehnen, desto weniger leben wir in der Gegenwart und umso langsamer verstreicht die Zeit – manchmal sogar quälend langsam. Ganz anders erleben wir Momente, in denen wir ganz im Gegenwärtigen aufgehen und die Lebensintensität darin unmittelbar spüren. Haben wir in diesen Augenblicken nicht das Gefühl, dass die Zeit verfliegt?
Wenn wir diese Dynamik erkannt haben, dann bekommt das Warten eine neue Bedeutung. Immer nämlich, wenn die Zeit so gar nicht vergehen will und wir dabei immer ungeduldiger werden, liegt es nicht daran, dass die Zukunft auf sich warten lässt, sondern daran, dass wir nicht im Augenblick anwesend sind. Wir verhalten uns dabei wie jemand, der mit dem Fernrohr immer nur zum Horizont blickt und dort die Verheißung sucht. Der unmittelbaren Umgebung wird keine Aufmerksamkeit geschenkt. Hand aufs Herz: Wie oft denken wir selbst, dass das Paradies in der Zukunft liegt?
Wo das Leben auf uns wartet
Doch was würde passieren, wenn wir das Fernglas weglegen und unseren Blick wieder öffnen für das Leben, das jetzt auf uns wartet – also für die Gegenwart? Freilich müssten wir dazu das innere Fernglas weglegen, das unseren Blick auf die Zukunft verengt. Anders gesagt, wir müssten bereit sein, unsere Vorstellungen und „Er-wartungen“ auf die Seite zu legen und unseren Blick wieder zu weiten. Nur dann kann es geschehen, dass wir erkennen, was eigentlich jetzt alles in unserem Leben wirkt und welche Möglichkeiten sich daraus ergeben.
Gegenwart ist nämlich Potentialität. In jedem Augenblick gibt es unzählige Möglichkeiten, voll und ganz lebendig zu sein. Ob wir einen tiefen Atemzug nehmen und die Vitalität spüren, die dabei durch unseren Körper strömt, ob wir die Kostbarkeit spüren, lebendig zu sein, ob wir die Geschenke spüren, die uns in jedem Augenblick zufließen, ob uns bewusst wird, dass immer ungezählte Begegnungen in der Gegenwart auf uns warten oder ob wir spontan zu tanzen und zu singen beginnen – immer gibt es einen bunten Strauß an Möglichkeiten, den Augenblick zu verkosten, zu feiern, mit ihm zu spielen und darin aufzugehen. Worauf warten wir also?
Eine andere Art des Wartens
Im Warten liegt jedoch nicht nur die Vielfalt und der Reichtum der Gegenwart verborgen. Das Warten selbst hat ein eigenes Potential, das wir oft übersehen. Dieses offenbart sich erst, wenn wir uns in ein absichtsloses Warten begeben. Hermann Hesse beschreibt es in Siddharta als eine Art „Zuhören, ein Lauschen mit stillem Herzen, mit wartender, geöffneter Seele, ohne Leidenschaft, ohne Wunsch, ohne Urteil, ohne Meinung.“
Es gibt also eine andere Art des Wartens. Hier sind wir auf nichts Bestimmtes fokussiert, sondern im Warten selbst präsent – offen und vollkommen empfangend. Je tiefer wir uns in diese unbedingte Offenheit hineinbegeben, desto deutlicher offenbart sich hier eine verdichtete Präsenz – ein Seinsgefühl, das nichts braucht und keine Zukunft kennt. Wundert es da, wenn Franz Kafka in seinen Briefen schreibt: „Vielleicht gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld.“
ÜBUNG: Warten – frei von jeglicher Absicht
- Reflektiere über die Frage: Worauf wartest du in deinem Leben?
- Dann untersuche in Achtsamkeit, was das Warten auf Zukünftiges in dir – in Körper, Geist und Seele – bewirkt.
- Lege jetzt alles zur Seite, atme tief durch, schüttle alle Vorstellungen und Er-wartungen aus dir heraus, bis du dich ganz frei, leicht und offen fühlst.
- Dann besinne dich auf ein absichtsloses Warten und lass folgende Worte mehrmals in deinem Innenraum klingen: „vollkommen absichtslos sein“.
- Lass dazu eine Gebärde auftauchen, einen Klang oder ein inneres Bild und gib dich ganz in diese Gebärde, diesen Klang oder diese Bild hinein. Tauche dabei immer tiefer in eine empfangende absichtslose Haltung hinein und spüre, was sich hier ausbreitet. Lass dir Zeit dabei. Du hast alle Zeit der Welt.
- Was ist die stärkste Qualität, die du hier spürst? Fühle diese in deiner Ganzheit…
- Dann schau von hier aus auf dein jetziges Leben. Wie erfährst du es von hier aus?
- Öffne jetzt die Augen und dein Herz: Schau dich um. Schau mit neuen Augen, als ob du alles zum ersten Mal siehst und spürst. Betrachte deine Umgebung mit neuen Augen und fühle deinen Körper wie ein Kind, das noch keine Erfahrungen gemacht hat und staunend Formen, Farben, Empfindungen und Gerüche erfährt…