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Achtsames Leben – Silvester in Stille?

von Richard Stiegler

Silvester in Stille?

Ein schwieriges Jahr liegt hinter uns. Wie wird das Neue werden? Es ist noch ganz unberührt, voller Versprechen, vielleicht auch schon voller Befürchtungen. Wie werden wir unsere Schritte setzen, unsere Spuren legen?

Im Übergang wird traditioneller Weise gefeiert, doch dieses Silvester wird vermutlich stiller und nachdenklicher sein. Die Böller und Partys fallen aus. Vielleicht ist das aber auch gut so? Denn die Jahreswende ist nicht nur die Zeit zu feiern, sondern lädt uns ein, innezuhalten und unser Leben zu überdenken. Wie war für mich das letzte Jahr? Was hat mich herausgefordert und was hat mich genährt? Konnte ich das, was für mich und ein erfülltes Leben kostbar und wesentlich ist, in mein Leben einfließen lassen? Oder habe ich das Wesentliche aus den Augen verloren? Habe ich mich verloren? Nur wenn wir uns besinnen und im besten Sinne neu verorten, können wir bewusst und gestärkt – Schritt für Schritt – in ein neues Jahr voller Leben gehen und unsere eigenen Spuren legen.

 

Sich verorten

Dabei darf man nicht unterschätzen, welch große Bedeutung es hat, sich immer wieder neu zu verorten. Allein der Begriff weist schon darauf hin, dass es darum geht, ein Gefühl für den Ort zu bekommen, an dem wir gerade sind. Das ist alles andere als selbstverständlich. Oft fühlen wir kaum, wo wir uns gerade aufhalten. Wir sind viel zu beschäftigt mit der Oberfläche unseres Lebens, mit den Anforderungen in Beruf und Beziehungen, mit dem, was wir erlebt haben oder mit den Gedanken an das Zukünftige. Sich verorten führt uns aber ins Jetzt – in einen fühlenden Kontakt mit uns selbst.

Geh ich zeitig in die Leere,
komm ich aus der Leere voll.
Wenn ich mit dem Nichts verkehre,
weiß ich wieder, was ich soll.

Bertolt Brecht

 

Wir sind fühlende Wesen

So geht es beim Verorten natürlich nicht um einen äußeren Vorgang, sondern um einen inneren. Der Ort, an dem wir uns heimisch fühlen, ist kein topographischer. Er findet sich auf keiner Landkarte. Er ist vielmehr in uns, in unserer Seele. Erst wenn wir uns die Zeit nehmen, innezuhalten und aus allen Bezügen herauszutreten, erst wenn wir unser Leben in Ruhe betrachten und uns neu besinnen (also wieder zu Sinnen kommen), wird eine innere Verbindung zu dem Ort hergestellt, an dem wir Lebendigkeit und Tiefe erfahren. Diese Heimat liegt mitten im Reich der Seele.

Denn wir sind als Mensch zuallererst ein fühlendes Wesen und erst in zweiter Linie ein denkendes oder handelndes. Wenn wir aber im Denken und Handeln verloren gehen und die Verbindung zu unserer Seele verlieren, haben wir keine Verortung und damit keine Verankerung mehr in uns. Wie ein abgerissenes Blatt werden wir von den Winden des Lebens mal hierhin und mal dorthin geweht und strampeln uns äußerlich ab, um allen Einflüssen gerecht zu werden. Wie anders fühlt sich das Leben doch an, wenn wir innerlich verwurzelt sind?

 

Wegmarken

Was ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns neu verorten können? Zuallererst braucht es natürlich Zeit und auch die Bereitschaft, uns nach innen zu wenden. Daran können uns Wegmarken erinnern. Wegmarken sind Momente, die aus dem kontinuierlichen Alltagsgeschehen herausstechen und uns dadurch regelrecht auffordern, aufzuwachen und uns neu zu besinnen.

In der christlichen Kultur waren die Wegmarken im Jahr traditionell die Sonn- und Feiertage. Sonntage dienen ja nicht nur der Familie, der Erholung und dem Freizeitspaß. Vielmehr ist der Sonntag der Tag der Besinnung. Genau darin – also in einem bewussten Raum der Besinnung – liegt die eigentliche Erholung vom Getriebe der alltäglichen Anforderungen. Wenn uns also heute die Sonntagsmesse nicht mehr zeitgemäß erscheint und wir damit keine ritualisierten Orte der Besinnung mehr haben, dann müssen wir neue Orte und neue Rituale der Verortung schaffen und pflegen. Eine spirituelle Praxis? Räume der Stille? Zeiten des Alleinseins in der Natur? Wenn wir die Sonntagsmesse ersatzlos streichen, könnte es geschehen, dass wir nicht nur dieses alte, (für viele überholte) Ritual verlieren, sondern immer mehr uns selbst.

 

Gestärkt ins Neue gehen

Doch nicht nur der Sonntag könnte als Wegmarke im alltäglichen Fluss des Lebens dienen. Ob wir Geburtstag feiern oder sich ein lang gehegter Wunsch erfüllt, ob sich eine Lebensphase dem Ende entgegen neigt oder sich der Tod eines geliebten Menschen jährt, immer gibt es besondere Ereignisse im Jahresfluss, die uns als Wegmarken für die Besinnung dienen können.

So auch diese denkwürdige stille Jahreswende ohne Partys und Böller. Sie lädt uns ein, uns nach innen wenden. Vielleicht finden wir ja dort die Lebendigkeit, die wir sonst zu dieser Gelegenheit in die Luft böllern? Vielleicht finden wir aber einfach nur zu uns selbst – in aller Stille. Das wäre sicherlich der größte Gewinn.

Ich möchte mich herzlich bei allen Leser*innen bedanken. Es gibt viele Menschen, die mir geschrieben haben, dass der NEWSLETTER FÜR ACHTSAMES LEBEN für sie in diesem Jahr ein hilfreicher Begleiter war. Das freut mich sehr und ermutigt mich, ihn im nächsten Jahr fortzusetzen.

Möge ein Segen auf unser aller Leben liegen und mögen wir immer wieder den Frieden spüren, der jedem Augenblick in der Tiefe unserer Seele innewohnt!

Ein gutes, glückliches und im Herzen friedliches neues Jahr wünscht
Richard Stiegler

 

ÜBUNG: Das eigene Leben ausbalancieren

  • Eine Möglichkeit des Reflektierens um die Jahreswende herum, ist, zu betrachten, inwieweit die vier grundlegenden Lebensbereiche, die das Leben eines/r Erwachsenen ausmachen, in unserem Leben ausgewogen sind. Für ein körperlich und seelisch gesundes Leben ist es essentiell, dass diese vier Bereiche immer wieder neu ausbalanciert werden. Die vier Bereiche sind:

  • Sorgfalt für die Basisbedürfnisse
    Hier geht es um die Grundbedürfnisse des Körpers: gute Ernährung, eine Ausgewogenheit zwischen Bewegung und Erholung, genügend Schlaf und ein Wohnraum, in dem wir uns wohl fühlen.
  • Sorgfalt für ein soziales Netz
    In diesem Bereich geht es um unsere sozialen Bedürfnisse. Sind wir in eine Partnerschaft, in eine Familie oder eine Gemeinschaft eingebunden? Haben wir gute Freunde und Freundinnen und pflegen wir diese Freundschaften? Nehmen wir uns Zeit für Beziehungen? Sind unsere Beziehungen und unsere Kommunikation wahrhaftig und tief?
  • Verantwortung übernehmen
    Haben wir eine Aufgabe im Leben, die über uns hinausweist? Übernehmen wir Verantwortung für Kinder oder engagieren wir uns im Beruf oder für einen Dienst am Allgemeinwohl? Bringen wir unsere Potenziale zur Entfaltung und bringen wir uns damit ins Leben zum Wohle anderer ein?
  • Spirituelle Räume schaffen
    Gibt es Räume des Alleinseins und der Besinnung, in denen ich mich zeitweise aus allen Bezügen und allem Beschäftigtsein herausnehme? Pflege ich Zeiten des Innehaltens und der Besinnung auf das Wesentliche des Lebens und den grundlegenden Lebensfragen: Wer bin ich? Was ist mein Ursprung? Was macht Leben zuinnerst aus? Was gibt meinem Leben Sinn?
  • Male intuitiv ein Bild dazu, wie diese vier Lebensbereiche in deinem alltäglichen Leben vorkommen. Lass dich überraschen, wie du die Bereiche malst und wieviel Raum sie jeweils auf dem Bild einnehmen.

  • Reflektiere dann: Haben alle Bereiche den gleichen Stellenwert in deinem Leben? Welche Beziehungen haben die Bereiche untereinander?

  • Willst du es so, wie du das Bild gemalt hast? Was sagt deine Sehnsucht dazu?

  • Vergleiche mit deiner Herkunftsfamilie: Wie waren dort die Bereiche gewichtet?

  • Was müsste in dir geschehen, damit du allen Bereichen genügend Aufmerksamkeit schenken kannst?

  • Wie könntest du konkret Bereiche nähren, die zu kurz kommen? Wie könntest du konkret Bereiche eingrenzen, die dein Leben dominieren?