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Achtsames Leben – Unter Druck
von Richard Stiegler
10. Dezember 2021
Eine Gesellschaft unter Druck
Derzeit können wir auf allen Ebenen beobachten, wie eine Gesellschaft immer mehr unter Druck gerät. Das Gesundheitssystem stöhnt unter den Belastungen und die Politik wird von den Ereignissen zu immer härteren Maßnahmen getrieben. Wer ein Geschäft betreibt, einen Betrieb hat oder in der Kultur tätig ist, hat sicherlich wieder die Sorge, dass starke Einschränkungen bevorstehen. Eltern bangen darum, dass ihre Kinder weiterhin zur Schule gehen können und Ungeimpfte haben im Moment sowieso das Gefühl, dass der gesamte gesellschaftliche Druck auf ihren Schultern abgelegt wird. Wo wir hinschauen, der Druck durch die Pandemie ist überall spürbar.
Wie die Polarisierung zunimmt
Doch mit dem Druck steigt auch die Spannung in der Gesellschaft und das führt zu einer zunehmenden Polarisierung. Dieses Phänomen ist nicht ungewöhnlich. Es tritt immer auf, wenn Gesellschaften unter Druck geraten. Denken wir an die Flüchtlingskrise von 2015. Da entstand spontan eine Welle der Hilfsbereitschaft, jedoch bildete sich auf der anderen Seite sehr schnell ein Lager aus, das vehement gegen die Aufnahme von Flüchtlingen war. Bis heute wirkt dies nach: Unsere Landesgrenzen werden immer noch kontrolliert und die AFD ist in den Bundestag eingezogen. Die Schatten von Polarisierungen wirken also lange nach, obwohl die auslösende Krise selbst bereits seit Jahren vorüber ist.
Ähnliches muss man auch jetzt befürchten. Wahrscheinlich werden wir noch viele Jahre mit der Spaltung der Gesellschaft zu tun haben, auch wenn wir irgendwann die Akutphase der Pandemie überwunden haben. Daher ist die Polarisierung und die sich daraus ergebende Spaltung mindestens genauso herausfordernd für unsere Demokratie, wie die Pandemie selbst. Wer hat nicht bereits jetzt in seinem engsten Umfeld plötzlich Unverständnis, Konflikte oder sogar Brüche erlebt?
Wie Identifikation zur Spaltung führt
Wenn wir aber erstmal mit einer bestimmten Position identifiziert sind, entsteht wie bei jeder anderen Identifikation auch eine selektive Wahrnehmung. Wir sehen nur noch das, was unsere Sichtweise bestätigt. Alles andere blenden wir aus oder wir entwerten es. Daher könnte man sich in der Pandemie mit folgendem Paradox beschäftigen:
Das Koan in der Pandemie
Das Leben ist nicht so, wie ich es sehe.
Und: Das Leben ist so, wie ich es sehe.
Wer dieses Paradox versteht, kann sich befreien.
Richard Stiegler
Es gibt jedoch noch eine zweite Dynamik, die wir bei Identifikationen beobachten können und welche zur Spaltung in Beziehungen ganz erheblich beiträgt. Immer nämlich, wenn wir einem Menschen begegnen, der unserer Sichtweise widerspricht, sehen wir nicht mehr den ganzen Menschen vor uns, sondern wir sehen nur noch das „Falsche“, welches dieser Mensch für uns vertritt. Es findet also eine Verschiebung in unserer Wahrnehmung statt, bei der wir nur noch auf die Sichtweise des Gegenübers schauen und der Mensch dahinter verschwindet. Wir kennen dieses Phänomen von allen schillernden öffentlichen Figuren der Geschichte. Wer kann in Donald Trump noch den ganzen (verletzlichen und kostbaren) Menschen sehen, der genauso Respekt verdient, wie jeder andere Mensch auch, unabhängig davon, welche Ansichten oder Verhaltensweisen er nach außen an den Tag legt?
Worauf schauen wir also in unseren Beziehungen? Auf den ganzen Menschen, der (aus welchen Gründen auch immer) eine andere Sichtweise hat? Oder nur noch auf die für uns falsche Position, die unsere eigene Sichtweise bedroht? Wenn ich aber keinen ganzen Menschen vor mir sehe, sondern nur noch eine falsche Position, dann werde ich sehr schnell bereit sein, den anderen fallen zu lassen und die Spaltung ist vollzogen.
Das Gesetz der Resonanz
Gott sei Dank können wir uns aus dieser unseligen Dynamik befreien. Dazu müssen wir uns bewusst machen, wie Identifikationen entstehen. Wie kommen wir überhaupt dazu, „für“ oder „gegen“ etwas zu sein? Durch sogenannte Fakten, aus Vernunft oder durch Zahlen, die uns in einer Statistik angeboten werden? Wohl kaum. Tatsächlich bilden sich unsere Sichtweisen typischerweise dadurch aus, dass einzelne Erfahrungen oder Begegnungen, die uns tiefer berühren, sich mit der Zeit zu Lebenshaltungen kondensieren.
Doch warum berühren uns bestimmte Ereignisse oder Begegnungen? Ist das Zufall? Oder gibt es tiefere Gründe dafür, dass den einen Menschen eine Lilie und einen anderen eine Mohnblume berührt? Warum finde ich eine bestimmte Wissenschaftlerin glaubwürdig und überzeugend und meine Nachbarin einen ganz anderen Wissenschaftler? Was in uns Resonanz erzeugt, ist keineswegs zufällig. Wenn uns etwas seelisch berührt, hat dies meistens mit natürlichen Wesensanteilen in uns zu tun, die hier in Schwingung geraten und sich entfalten wollen. Stellen wir uns vor, in uns lebt ein tiefes Bedürfnis, ganz authentisch unseren eigenen Weg zu gehen. Ist es da verwunderlich, wenn mich dann Aussagen von Politiker*innen oder Wissenschaftler*innen berühren, die die freie Entscheidung betonen?
Es gibt viel zu entdecken
Manchmal berühren uns aber Ereignisse und Begegnungen auch deshalb, da sie grundlegende Einstellungen zum Leben, die in uns schlummern, bestätigen. Vielleicht haben wir ein grundlegendes tiefes Misstrauen dem Leben oder Autoritäten gegenüber. Dann wird man in der derzeitigen Pandemie wirklich vieles entdecken können, das dieses Misstrauen bestätigt. Wie anders wird jedoch ein Mensch die derzeitige Situation wahrnehmen, der ein grundlegendes Vertrauen in Autoritäten und ins Leben hat?
Was folgt daraus? Wenn wir unsere Sichtweisen (und unsere Abneigungen) ernst nehmen, und sie nach innen hin erforschen, können wir viel über uns entdecken. Sowohl Wesensaspekte, die sich in unserem Leben entfalten wollen, werden spürbar, als auch grundlegende Lebenshaltungen, die sich irgendwann gebildet haben und uns unbewusst von innen her leiten, können entdeckt werden. Gleichzeitig befreien wir uns aus der inneren Gefangenschaft der Identifikation, denn auf der Ebene unserer Sichtweisen sind wir starr und festgelegt, aber auf der Ebene seelischer Qualitäten, die sich hier entfalten wollen, sind wir sehr lebendig. Hier können wir spüren, was uns kostbar ist und haben gleichzeitig die Freiheit, gegenteilige Facetten zu umfassen. Nur so können wir Spaltungstendenzen überwinden.
ÜBUNG: Aus der Polarisierung aussteigen
- Welcher Mensch regt dich derzeit in der Pandemie auf? Was vertritt oder verkörpert dieser Mensch, dass er oder sie dich so aufregt?
- Mach dir jetzt bewusst, dass es nicht der ganze Mensch ist, der dich aufregt, sondern nur ein sehr kleiner Aspekt, den dieser Mensch für dich vertritt. Wie verändert sich dein Erleben, wenn du nicht auf die Sichtweise (oder das Verhalten) dieses Menschen schaust, sondern auf den ganzen (verletzlichen und kostbaren) Menschen dahinter?
Lass dir Zeit, dein verändertes Erleben zu erkunden. Wie schaust du jetzt auf diesen Menschen und wie fühlst du zu ihm oder ihr? Wie würdest du dich jetzt in der Beziehung verhalten?
- Dann schau nochmal auf die Sichtweise (oder das Verhalten), die dieser Mensch für dich verkörpert und welche dich aufregt. Was ist es genau, das dich aufregt. Verdichte es in einem Satz oder in ein bis zwei Worten.
- Was in dir wird durch diese Sichtweise (oder durch diesen Satz) bedroht? Nach welcher inneren seelischen Qualität sehnst du dich hier eigentlich, welche durch diese Sichtweise bedroht wird?
- Tauche jetzt tiefer in diese seelische Qualität hinein. Lass für diese Qualität ein phantasievolles Bild auftauchen und betrachte es in Ruhe. Durch welches Element in dem Bild drückt sich diese Qualität besonders deutlich aus?
- Schlüpf jetzt in dieses Element hinein und erfahre dich als dieses Element. Wie fühlt sich das an? Lass es ganzkörperlich werden und mach eine Gebärde dazu. Lass dir Zeit, zu erkunden, was sich innerlich ausbreitet, wenn diese seelische Qualität in dir lebendig ist.
- Wenn diese Qualität ganz lebendig in dir da ist, wie lebst du dann? Und wie schaust du auf Menschen, die andere seelische Qualitäten verkörpern?