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Achtsames Leben – Natürliches Wachstum?

von Richard Stiegler

Frühling ist die Jahreszeit, in der die Natur geradezu explodiert und alle Kraft ins Wachstum geht. Entwicklung und Wachstum sind offensichtlich natürliche Kräfte des Lebens. Alles, was lebt, entwickelt sich. Wenn ein lebendiges System sich nicht mehr fortentwickelt – nicht mehr im Fluss ist – wird es absterben.

Doch es geht nicht um ein unbegrenztes Wachstum, wie das in Teilen der Finanzwelt und der Wirtschaft propagiert wird. Wenn nur noch auf Profit gesetzt wird und kein nachhaltiges Wirtschaften angestrebt wird, ist dies für Mensch und Umwelt alles andere als gesund. Insofern stellt sich sowohl für persönliche Projekte als auch für das globale Wirtschaften die Frage: Wie gestaltet sich ein natürliches Wachstum, das im Einklang mit den Lebensgesetzen steht?

 

Der Blick in die Natur

Um Kriterien für ein natürliches Wachstum zu finden, hilft der Blick in die Natur. Schließlich haben in der Natur alle Gesetzmäßigkeiten des Lebens auf eine sehr anschauliche Art und Weise Gestalt angenommen. Wir müssen nur unsere Augen aufmachen und uns innerlich mit einem Teil aus der Natur verbinden, dann wird die Natur zu einer Quelle der Weisheit, die uns immer zur Verfügung steht.

Wenn wir nun die Frage nach natürlicher Entwicklung stellen, dann können wir sehen, dass Wachstum zwar in der Natur eine wesentliche Kraft ist, aber auf eine Weise, in der sich die Kräfte im Gleichgewicht halten. Bei uns Menschen ist dies nicht immer der Fall. Kraft der geistigen Macht des Denkens haben wir die Fähigkeit erlangt, große Ideen und mächtige Werkzeuge zu entwickeln. Dadurch entsteht eine enorme Geschwindigkeit, die organischem Wachstum vollkommen entgegenläuft. Wenn wir uns jedoch auf die natürlichen Gesetzmäßigkeiten in der Natur zurückbesinnen, bekommen wir eine Orientierung für unsere Herzensprojekte wie auch für große wirtschaftliche Entwicklungen.

Im Folgenden möchte ich 6 grundlegende Prinzipien beschreiben, die für gesundes organisches Wachstum von Projekten bedeutsam sind und mich seit vielen Jahren in meinen Herzensprojekten leiten:

 

1. Mehrere Wurzeln haben

Wenn wir einen Baum betrachten, dann sehen wir, wie entscheidend seine Wurzeln für ihn sind. Zuerst wächst ein Baum nach unten in die Erde hinein, dann erst treibt er nach oben aus, um irgendwann auch Früchte zu bekommen. Dabei holt er sich Kraft und Halt aus einem großem Wurzelgeflecht und nicht nur aus einer einzigen Wurzel.

Auf menschliche Projekte übertragen bedeutet dieses Prinzip, dass es wesentlich ist, sich gut mit dem Umfeld zu vernetzen, denn jede Unternehmung steht in einem Kontext. Vor allem aber ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass es auf mehreren tragenden Säulen aufgebaut ist, um die Stabilität für das Vorhaben zu erhöhen und das Risiko zu streuen. Nicht zuletzt dürfen wir niemals vergessen, wieviel Unterstützung wir für den eigenen Weg bekommen haben. Was immer wir heute zu geben haben, das Potential und die Kraft dazu wurde uns von vielen Menschen und dem Leben selbst übertragen.

 

2. Sich treu bleiben

Ein Baum bleibt seinem Wesen treu. Wenn er ein Apfelbaum ist, dann bleibt er das sein Leben lang – auch dann, wenn er in einem Birnenhain wächst. Er kann mit den Winden mitschwingen, bleibt aber in sich gegründet.

Herzensprojekte haben dann eine Kraft, wenn sie authentisch – also kongruent mit der inneren Wahrheit – sind. So entsteht eine Originalität – ein „Markenkern“ –, der trotz aller Entwicklung das Wesen eines Projektes ausmacht. Sich treu bleiben meint, sich nicht von Moden, von Prestige oder anderen Einflüssen verführen lassen, die nicht zum eigentlichen Herzensanliegen passen.

 

3. Offen sein für Veränderungen

Alles existiert im Verbund, daher kann sich ein Baum in seinem Wuchs und in seiner Krone sehr flexibel anpassen. Wenn der Wind oder das Licht immer von einer Richtung kommen oder wenn er zugeschnitten wird, wird er seine Form den neuen Gegebenheiten anpassen.

Umstände können sich jederzeit verändern und es ist wesentlich, sich auf diese Veränderungen zu beziehen. Um in Übereinstimmung mit den Lebensumständen zu sein, braucht es immer wieder Momente des Innehaltens, um in Ruhe zu betrachten, wie sich Entscheidungen im Verbund tatsächlich auswirken. So kann und muss das Projekt immer wieder neu ausgerichtet werden, um zum Beispiel neue Nischen zu besetzen. Dazu kann es auch wichtig sein, alte Bezüge, die nicht mehr stimmen, aufzugeben und nicht daran festzuhalten.

 

4. Bescheiden und integer sein

Ein Baum lässt sich nicht von Erfolg verführen und streitet nicht. Er gibt nur so viel, wie er hat und beutet sich selbst nicht aus.

Bescheidenheit und Integrität sind zentrale Tugenden, aus denen eine große Kraft erwächst. Umgekehrt können Selbstsucht, Größenwahn und charakterliche Mängel zu großen Konflikten führen und ein Herzensprojekt schnell gefährden oder schwer belasten. Das Wesen der Bescheidenheit besteht darin, dass wir einer Aufgabe oder einem Herzensprojekt dienen und nicht umgekehrt. Es steht also nicht die Person im Zentrum, sondern die Herzenssache selbst. Wenn das klar ist, dann geht es nicht um das eigene Ansehen und nicht um die Größe des Profits. Im Zentrum stehen nicht die Quantität und Größe eines Projektes, sondern das Anliegen und die Qualität, die hier in die Welt kommen wollen.

 

5. Schritt für Schritt vorangehen

Ein Baum wächst kontinuierlich – Jahr für Jahr – ein kleines Stück im eigenen Tempo. Dazwischen legt er Erholungspausen ein. Er wächst dort, wo er steht.

Gesundes Wachstum benötigt die Disziplin, nicht zu schnell zu wachsen, sondern beständig und mit angemessenen Erholungspausen in kleinen Schritten voranzugehen. Es geht nicht um Luftschlösser und große Visionen, die am grünen Tisch entworfen werden. Vielmehr geht es um die Frage: Was ist bereits da? Und was ist der nächste kleine organische Schritt der Entwicklung? Für die Entwicklung von Projekten sind nicht einzelne große Entwürfe entscheidend, sondern die Sorgfalt für die vielen kleinen alltäglichen Entscheidungen und Notwendigkeiten.

 

6. Die natürlichen Grenzen akzeptieren

Ein Baum wächst irgendwann nicht mehr weiter in die Höhe. Er verlangsamt sein Wachstum, akzeptiert herabfallende Äste und letztlich sein Ende.

Jedes Wachstum, das im Einklang mit dem Verbund steht, hat natürliche Grenzen. Wenn diese nicht akzeptiert werden, wird das Umfeld wie bei einer Krebszelle überwuchert. Ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung geht es daher mehr um eine qualitatives als um ein quantitatives Wachstum. Dann kann ein Projekt auch noch lange vital sein und viel Gutes in die Welt bringen, auch wenn die Zeit der Blüte längst vorbei ist. Es wird der Punkt kommen, wo es darum geht, sich wieder zu verkleinern.

 

Wachstum als natürliche Bewegung in einer größeren Ganzheit

Leider kommt es auch beim Thema „Wachstum“ immer wieder zu Polarisierungen: Manche erliegen der Versuchung, alles dem Wachstum unterzuordnen, wohingegen andere Wachstum grundlegend ablehnen und verteufeln. Vielleicht wäre auch bei diesem Thema eine differenzierte Betrachtungsweise hilfreich. Dann könnten wir Wachstum als grundlegendes Lebensprinzip anerkennen und gleichzeitig uns bewusst sein, dass Wachstum keinen Wert für sich darstellt, sondern immer einem größeren Anliegen dient und in einen größeren Kontext eingebunden ist. Wer das in seinen Herzensprojekten berücksichtigt, handelt im Einklang mit den Lebensgesetzen.

 

ÜBUNG: Ein Herzensprojekt reflektieren

Reflektiere mit Hilfe der Fragen ein Herzensprojekt von dir. Welche Punkte werden oder wurden berücksichtigt und welche nicht? Was hat oder hatte das für eine Auswirkung?

 

1 Mehrere Wurzeln

  • Steht dein Projekt auf mehreren Beinen?
  • Pflegst du die Vernetzung mit anderen?
  • Bist du dir der Unterstützung und Wurzeln bewusst, aus denen dieses Projekt entstanden ist? (Nichts kommt aus dir allein.)

 

2 Sich treu bleiben

  • Bist du dir deines Herzensanliegens bewusst? Bist du darin gegründet?
  • Bleibst du deinem Wesen treu? Oder lässt du dich von Moden, von Geld oder anderen Versuchungen verführen?

 

3 Offen für Veränderungen bleiben

  • Nimmst du dir immer wieder die Zeit, innezuhalten und zu betrachten, wie sich Entscheidungen im Verbund auswirken?
  • Kannst du flexibel auf äußere Bedingungen eingehen?
  • Kannst du dich immer wieder neu auf das Grundanliegen ausrichten?
  • Kannst du dich von nicht mehr stimmigen Systemen verabschieden oder hältst du daran fest?

 

4 Bescheidenheit und Integrität

  • Dienst du dem Projekt oder soll es dir dienen?
  • Bist du bescheiden oder hast du große Ansprüche?
  • Lässt du dich leicht verführen? Wenn ja, wofür bist du anfällig?
  • Lässt du dich in Streitigkeiten verwickeln?

 

5 Kleines, aber kontinuierliches Wachstum

  • Kannst du das Projekt kontinuierlich in kleinen Schritten weiterentwickeln?
  • Bist du beständig?
  • Lässt du dir und dem Projekt Erholungspausen?
  • Hast du eine Sorgfalt für die vielen, kleinen Aufgaben? Kannst du sie wertschätzen?
  • Neigst du dazu, Luftschlösser zu bauen oder nährst du das, was bereits da ist?

 

6 Natürliche Grenzen

  • Kannst du akzeptieren, dass Wachstum irgendwann eine natürliche Grenze hat?
  • Legst du mehr Gewicht auf quantitatives Wachstum oder auf qualitative Weiterentwicklung?

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