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Achtsames Leben – Leben und lieben – trotz allem
von Richard Stiegler
Ist die Liebe nicht eine ungeheure Kraftquelle? Ein Lebenselixier, das uns die Verbundenheit mit dem Leben spüren lässt und Sinnhaftigkeit vermittelt? In der Liebe wachsen uns enorme Kräfte zu. Denken wir an Eltern: Welche Entbehrungen nehmen sie doch in Kauf, um ihre Kinder aufzuziehen oder in schwierigen Lebensphasen zu begleiten? Oder gibt es nicht auch Freundschaften, die über viele Jahre durch dick und dünn gehen? Ein anderes Beispiel sind Menschen, die den starken Ruf ihres Herzens verspüren, eine Aufgabe auf sich zu nehmen. Haben sie nicht oft eine fast unerschöpfliche Bereitschaft, sich trotz aller Ängste und Widrigkeiten diesem Weg zu folgen?
Ohne das Leuchten der Liebe sind wir blind für die Schönheiten und Kostbarkeiten des Lebens und unser Leben bleibt farblos und leer. Ist es da ein Wunder, dass die schönsten Gedichte Liebesgedichte sind und dass sich alle Menschen zuinnerst nach dieser Zauberkraft sehnen?
Um Gott zu loben muss man leben.
Und um zu leben muss man lieben – trotz allem!
Rabbi Leikes
Wie die Liebe uns veredelt
Doch die Liebe ist nicht nur eine Energiequelle. Sie ist auch der Kristallisationspunkt unserer Seele, der all unsere menschlichen Potentiale erst veredelt. Wir können zum Beispiel unsere Intelligenz dazu einsetzen, um möglichst viel Profit herauszuschlagen oder sogar um andere auszutricksen. Wir können sie aber auch für eine gerechte Welt einsetzen. Mit unserer Energie können wir persönliche Höchstleistungen anstreben, oder sie dazu nutzen, andere Menschen zu unterstützen und dem Leben zu dienen. Wir können mit unserer Stimme andere beschimpfen und nationale Lieder schmettern, oder wir können zärtliche Liebeslieder singen und konstruktive Konfliktgespräche führen. Erst die Liebe lässt uns wahrhaft menschlich fühlen und handeln.
Dabei ist die Liebe bei näherer Betrachtung alles andere als romantisch. Im Gegenteil, sie ist sogar sehr anspruchsvoll. Zu lieben bedeutet nämlich, dass wir uns mit dem Augenblick, so wie er tatsächlich ist, verbinden. Unsere Ideen, Vorstellungen und Wünsche sind oft romantisch, aber das tatsächliche Leben ist es nicht. In der Liebe sind wir immer aufgefordert, uns zu öffnen und über unsere kleine Welt hinauszugehen.
Liebe ist nicht verlässlich
Doch so zentral die Kraft der Liebe für unser Leben ist, sie ist keineswegs verlässlich. Wie wir wissen, endet die Phase der Verliebtheit zwischen Paaren statistisch meist nach 6-24 Monaten. Und auch die erste zärtliche Liebe, die Eltern zu ihren neugeborenen Kindern empfinden, kann bereits nach wenigen Monaten oder Jahren vom alltäglichen Klein-Klein des Sich-Kümmerns überdeckt werden.
So erfüllend die Liebe in ihren verschiedenen Gewändern auch sein kann, so schnell kann sie uns abhandenkommen. Manchmal scheint sie wie unter einer dicken Staubschicht unerreichbar verborgen. In der Routine des Lebens gefangen, vermögen wir nicht einmal mehr die Nähe zu unseren Liebsten zu spüren – geschweige denn die Kostbarkeit jedes Augenblicks.
Wie unser Gehirn arbeitet
Woher kommt der viele Staub, der sich dick und schwer auf unser Herz legen kann und dann so trennend wirkt? Um das zu begreifen, müssen wir die Funktionsweise unseres Gehirns betrachten. Von jeder wiederkehrenden Erfahrung wird ein geistiges Muster erstellt, das uns dann zur Verfügung steht, um uns sehr schnell orientieren und beziehen zu können. Die Schattenseite davon ist jedoch, dass das Muster immer mehr den unmittelbaren Kontakt ersetzt. Wenn wir zum Beispiel ein Musikstück lieben, weil es uns in Schwingung versetzt, so verliert der Zauber sehr schnell seine Wirkkraft, wenn wir es ständig anhören. Und genauso ist es mit unseren Liebsten. Das automatisierte Beziehungsmuster in unserem Kopf ersetzt immer mehr die unmittelbare Nähe und Berührbarkeit in der Begegnung.
Ergänzend zu dieser Dynamik bilden wir in allen Bereichen unseres Lebens Vorstellungen aus, die uns helfen, das Leben einzuordnen, die uns aber andererseits von der unmittelbaren Verbindung mit den Ereignissen trennen. Denken wir an den furchtbaren Ukraine-Krieg, der jetzt seit 1 ½ Jahren mitten in Europa tobt. Täglich sterben hier sinnlos Menschen. Wie waren wir doch in der ersten Zeit erschüttert und voller Mitgefühl? Doch es dauerte nicht lange, bis wir uns eine Meinung über den Krieg gebildet hatten. Und mit jeder festen Meinung entsteht eine innere Distanzierung. Immer wenn sich eine Vorstellung über das Leben gebildet hat, verlieren wir den Zugang zu unmittelbarer Berührbarkeit und zu einem anteilnehmenden und offenen Interesse.
Von der Notwendigkeit, immer wieder Hausputz zu machen
Mit anderen Worten: Es ist nicht unser persönliches Problem, wenn die Routine des Alltags oder unsere Meinungen und Vorstellungen immer wieder die unmittelbare Bezugnahme und damit unsere Liebe und unser Mitgefühl überdecken. Wie in unserem Zuhause, in dem wir leben, werden sich mit der Zeit Staubschichten von Vorstellungen auf alle Ereignisse und Beziehungen legen und uns von unserem Herzen und von unmittelbarer Berührbarkeit trennen, wenn wir nicht immer wieder bereit sind, uns von unseren Vorstellungen zu reinigen.
Unsere Schuld ist es also nicht, wenn uns gedankliche Welten bestimmen und vom Leben und der Liebe trennen. Aber es ist unsere Verantwortung, regelmäßig inneren Hausputz zu betreiben. Und wie geht das? Nun, wir machen das Gleiche wie beim äußeren Hausputz: Wir schauen im ersten Schritt, welche Art von geistigen Staubschichten sich gerade angesammelt haben, um uns dann im zweiten Schritt davon zu reinigen und davon zu befreien. Nur dann können wir leben und lieben – trotz allem!
ÜBUNG: Ein innerer Hausputz
- Lass eine Situation oder Beziehung auftauchen, in der du dich im Herzen verschlossen fühlst oder welche dich beschwert?
- Welche Art von Vorstellung/Konzept/Ideal/Anspruch verschließt oder beschwert dein Herz? (auch in einer Emotion wirkt eine Vorstellung!)
- Was ist der Hintergrund dieser Vorstellung? Woher kommt sie? Welche Geschichte gibt es dazu? Welche Sehnsucht verbirgt sich darin?
- Erforsche die Wirkung dieser Vorstellung, wenn sie dich besetzt. Lass eine Gebärde dazu auftauchen und nimm sie ein. Gib dich in diese Gebärde hinein und spüre, in welche Welt du hier kommst? Welche Gefühle und inneren Bilder tauchen hier auf? Wie ist der Kontakt zu dir und zum Gegenüber?
- Dann lass alles los, strecke dich körperlich und atme tief durch
- Mach dir jetzt bewusst, dass diese Vorstellung nur ein Gedanke ist, nichts weiter. Du bist nicht deine Gedanken. Überlass die Vorstellung sich selbst und spür jetzt ganz unmittelbar: Was breitet sich in dir aus, wenn du von dieser Vorstellung frei bist?
- Was ist die wichtigste Qualität, die sich hier ausbreitet? Lass dir Zeit, sie zu verkosten. Fühle sie in deiner Ganzheit!