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Achtsames Leben – Zeit

von Richard Stiegler

Vom Phänomen der Zeit

Wenn wir in den Spiegel schauen und unser Gesicht betrachten, dann bemerken wir, dass wir nicht mehr wie als Kind aussehen. Ganz klar, wir sind in unserer menschlichen Form der dynamischen Kraft des Lebens – der Zeit – ausgesetzt und wir können unser Leben quantitativ in Tage, Wochen und Jahre einteilen. Wenn wir diesen Blickwinkel einnehmen, dann hat alles im Leben einen Anfang und auch ein Ende. Wir wurden geboren, altern und werden sterben.

Doch wenn wir unsere Augen schließen und auf den lebendigen Fluss im Inneren lauschen, dann spüren wir keine Tage, Wochen oder Jahre – keine Geburt, keinen Tod und kein Alter –, sondern immer nur dieses lebendige, gegenwärtige Fließen, welches unser Leben innerlich ausmacht. In der unmittelbaren Aufmerksamkeit gibt es zwar Bewegung, aber keine äußere Zeit und keine Taktung, in der unser Leben stattfindet.

 

Ein Leben in der Zeit

Ist das nicht seltsam, wenn wir bedenken, welch große Bedeutung in der Alltagsrealität die Zeit hat? Haben wir nicht normalerweise das Gefühl, dass wir in der Zeit leben und Vergangenheit und Zukunft eine Realität sind? Wie sind wir im Alltag doch oft getaktet? Unser Leben scheint in Zeiträumen zu verlaufen, die durch Uhren und Kalender gemessen werden und wenn wir uns in der Gesellschaft umschauen, stellen wir fest, dass die Einteilung durch die Zeit in der modernen Welt eine immer größere Bedeutung einnimmt. Handlungsabläufe werden vermessen und dadurch optimiert. Ob in der Industrie oder im privaten Sport ermöglicht uns die Einteilung in Zeiträume eine stetig wachsende Produktivität und Selbstoptimierung. Doch je effektiver wir werden, desto äußerlicher werden wir auch, da uns dadurch mehr und mehr die Kategorien der Alltagsrealität und des Verstandes bestimmen.

 

Lebendige Rhythmen

Natürlich ist es hilfreich, die Uhr zu kennen und im Alltag zu nutzen, aber wir dürfen dabei nicht den Fehler machen, zu denken, dass die Lebendigkeit eine Kategorie innerhalb der Zeit ist, sonst laufen wir Gefahr, uns von unserer Innenwelt abzutrennen. Die Seele nämlich hat ihre eigene Zeit, besser gesagt, ihre eigenen Rhythmen, die sich nicht takten lassen. Rhythmen sind lebendig und organisch. Sie entstehen aus natürlichen, fließenden Bewegungen, die sich von innen heraus und durch ein Zusammenspiel mit den unterschiedlichsten Bewegungen bilden. Rhythmen greifen also ineinander und sind daher ganzheitliche Bewegungen. Wir können sie nicht wirklich trennen. Ist der Rhythmus zwischen Wachen und Schlafen nicht eine natürliche Bewegung, die ineinander übergeht und an welcher unzählige andere innere und äußere organische Zyklen, wie beispielsweise Verdauung, Bewegung oder der Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit, beteiligt sind?

 

Das Tor der Muße

Je mehr wir uns der Zeit und der Uhr verschreiben und uns entsprechend antreiben und kontrollieren, desto schwieriger wird es, auf unsere Seele mit ihren natürlichen Rhythmen und ihrer unmittelbaren Lebendigkeit zu hören und umso weniger werden wir dieser organischen und ganzheitlichen Weisheit, die hier lebt, vertrauen. Das bedeutet, dass die Vorstellung von Zeit und die Fixierung auf Uhren zwar im Alltag hilfreich ist und oberflächlich effektiver macht, aber gleichzeitig unser grundlegendes Vertrauen ins Leben fundamental schwächt. Können wir nicht genau das in unserer Leistungsgesellschaft überall beobachten? Wie Menschen auf eine Weise immer äußerlicher und oberflächlicher werden und gleichzeitig die Anbindung nach innen und das Vertrauen ins Leben verlieren?

Nur wenn wir die Uhren zur Seite legen und vollkommen losgelöst von Zeitvorstellungen und Zeitdruck auf die natürliche Bewegung des Lebens in unserer Seele und um uns herum lauschen, können wir uns wieder mit dem großen Fluss des Lebens verbinden. Nur dann sind wir im Einklang mit der Ganzheit des Lebens. Aus dieser inneren Anbindung heraus entfaltet sich eine Lebensweise, die nicht unsere Ideen und Pläne dem Leben abtrotzen will, sondern die Weisheit hat, mitzufließen und organisch zu gestalten. Innere Muße ist daher der Schlüssel zur Weisheit und Innerlichkeit der Seele und zu einem ganzheitlichen und damit friedfertigen Leben.

 

Und immer wartet der Raum der Ewigkeit

Wenn wir uns in eine innere Muße begeben, zeigt sich sogleich das Erleben von Freiheit. Wir treten aus der Idee von Zeit heraus, indem wir uns in einen offenen und empfangenden Zustand begeben und darin der natürlichen, schöpferischen Bewegung des Lebens lauschen. Je tiefer wir in diese lauschende Haltung eintauchen, desto mehr treten wir aus der dynamischen Dimension von Zeit heraus und wir spüren inmitten all der Bewegung einen Raum der Stille. Vollkommenes Lauschen ist vollkommene Stille – ein Raum der Ewigkeit. Dieser Raum ist von jeglicher Bewegung frei und daher jenseits der dynamischen Kraft von Zeit. In dieser vollkommenen Präsenz verdichtet sich die Dimension von SEIN, ohne Zeit und ohne Raum. Hier nimmt alle Bewegung ihren Anfang und hier endet jede Bewegung. Es ist der zeitlose Grund, die Quelle, aus der sich der dynamische Aspekt des Lebens speist.

In einem Moment des vollkommenen Lauschens kann sich also der Raum der Absoluten Realität als eine zeitlose, immerwährende Dimension offenbaren. Wenn wir in einem solchen Moment auf die Uhr blicken, wirkt die Einteilung in Zeit und Kalendertage äußerst irreal und wir spüren deutlich, dass sie ein rein gedankliches Konstrukt ist und keine wirkliche Relevanz hat. Selbst unser Alter scheint hier eine Kategorie zu sein, die nicht wirklich existiert. Wie könnte auch etwas altern in einer Dimension, in der es nur Präsenz pur gibt – also reines SEIN vor und jenseits aller Bewegung?

 

Zwischen Zeit und Ewigkeit

Und doch sind wir als Mensch, so wie alle anderen Geschöpfe auch, der Zeit ausgesetzt und werden älter, werden sterben. Ein wacher Blick in den Spiegel zeigt es uns. Wir tun gut daran, der existenziellen Wucht dieser Tatsache standzuhalten, denn das Bewusstsein über die Endlichkeit öffnet unser Herz für die Kostbarkeit des Lebens.

Gleichzeitig offenbart sich auf einer tieferen Ebene, dass nur unsere menschliche, individuelle Form stirbt, nicht aber die eine große Bewegung des Lebens selbst, die in uns und in allem immer weiterfließt und in welche wir mit unserem individuellen Leben eingebettet sind. Diese dynamische, ganzheitliche Kraft können wir ganz unmittelbar spüren, sobald wir uns mit der Seele und dem lebendigen Augenblick verbinden.

Und dann gibt es noch das SEIN – die Quelle aller Bewegungen. Eine Stille jenseits der Zeit. Sie ist zuinnerst in jedem Augenblick unseres Lebens anwesend. Hier offenbart sich Ewigkeit.

(Ausschnitt aus dem neuen Buch von Richard Stiegler:
„Zwischen Zeit und Ewigkeit“)

 

ÜBUNG: Drei Perspektiven auf den Atem

  • Wie lange dauert ein Atemzyklus (Einatmen, Ausatmen und Atempause)? Messe ihn mit der Uhr oder durch Zählen. Sind das Einatmen und das Ausatmen wirklich gleich lange? Und wie lange dauert die Atempause?

  • Kannst du diese Zeiträume systematisch verlängern oder verkürzen? Welche Wirkung hat das für dein Erleben, wenn du aktiv in den Atemrhythmus eingreifst?

  • Entspann dich jetzt und überlass dich dem Atmen…
    Tauche immer tiefer in das Fließen des Atmens ein…
    Spüre das Fließen des Atems im ganzen Körper…

  • Gib diesem fließenden Atem jetzt einen Gestaltausdruck: Lass dazu eine ganzkörperliche Bewegung auftauchen und gib dich immer tiefer in diese Bewegung hinein und lass daraus einen Tanz entstehen – deinen „Atemtanz“.

  • Welches Lebensgefühl entsteht dabei? Wie lebst du von hier aus? Was ist hier noch wichtig und was nicht mehr?

  • Dann lass den Tanz verklingen und lausche in die Atempause…
    Tauche dabei innerlich immer tiefer in die Stille der Atempause ein, bis du das Gefühl hast, dass sich in dir eine tiefe Stille ausbreitet.

  • Überlass dich ganz dieser zeitlosen Stille und spür, wie sie jeder Bewegung zugrundliegt…

  • Spür, wie dieser eine Atemzug aus der Stille auftaucht und wieder dahin zurückfließt… Spür, wie ein Geräusch oder ein Gedanke aus der Stille auftaucht und wieder dahin zurückfließt…

  • Reflektiere zum Schluss: Wie erfährst du diese drei unterschiedlichen Perspektiven auf das Atemgeschehen? Mach dir bewusst, dass diese drei Perspektiven den drei Bewusstseinswelten entsprechen, in denen wir leben: Alltagsrealität, Seelische Realität und Absolute Realität. Jedes Geschehen kann aus diesen drei Perspektiven erfahren werden.