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Achtsames Leben – Jeder Morgen neu

von Richard Stiegler

Heute hat sich das erste Türchen im Adventskalender geöffnet. Welch schöner alter Brauch der Vorbereitung und Vorfreude auf das kommende Weihnachtsfest. Jeden Morgen eine neue Überraschung und eine kleine Freude, die sich beim Öffnen der Türen ereignet. Wahrlich ein Sinnbild dafür, dass das Leben uns täglich neu beschenkt. Vielleicht sind die vielen Geschenke, die traditionell an Weihnachten ausgetauscht werden auch nichts anderes als Erinnerungen daran, dass uns jeder Augenblick geschenkt ist.

Wie würden wir wohl leben, wenn uns bewusst wäre, dass alles, was unser Leben ausmacht, ein Geschenk ist und sich das Türchen ins Leben jeden Morgen für uns neu öffnet?

 

Die Geburt als Schöpfungsakt

Machen wir uns nochmal bewusst, was das zentrale Ereignis ist, das Menschen auf der ganzen Welt an Weihnachten feiern: Es ist die Geburt Jesu. Oder anders ausgedrückt: die Menschwerdung Gottes. Wenn man dieses berührende Ereignis, das hier so eindrücklich und lebensnah geschildert wird, in eine spirituelle Sprache übersetzt, dann bedeutet das nichts anderes, als dass das Absolute – der Urgrund des SEINs – in einem Schöpfungsakt lebendig wird und Gestalt annimmt.

Wo ist dieses Wunder anschaulicher und unmittelbarer erlebbar als in der Geburt eines Kindes? Wer bereits einer Geburt beigewohnt hat oder selbst ein Kind geboren hat, kennt dieses überwältigende Gefühl, wenn plötzlich – wie aus dem Nichts – ein vollkommen neues, lebendiges Wesen auf die Welt kommt und in unseren Armen liegt. Wer ein Neugeborenes betrachtet, kann gar nicht anders als tiefe Ergriffenheit zu spüren. Wie die Hirten in der biblischen Geschichte werden wir zu Zeugen von etwas Großem und Unbegreiflichem, das uns demütig staunen lässt.

 

Das große alltägliche Wunder

In diesem Sinne ist die Geburt Jesu in der Weihnachtsgeschichte ein Symbol für den immerwährenden Schöpfungsakt, der sich in uns allen vollzieht. Letztlich geht es also nicht um die Geburt eines Kindes, sondern um die Geburt in jedem Augenblick! Wir werden daran erinnert, dass sich das Wunder der Schöpfung mit jedem Herzschlag, mit jedem Atemzug und in jedem inneren oder äußeren Geschehen im Spiegel unserer Bewusstheit offenbart.

Ist es nicht erstaunlich, dass wir Menschen oft das Spektakuläre und die Sensationen suchen und dabei das große Wunder übersehen, das sich unentwegt vor unseren Augen abspielt?

Und wäre Christus tausendmal
in Bethlehem geboren,
doch nicht in dir,
du wärest ewiglich verloren.
(Angelus Silesius)

 

Die Schattenseite des Denkens

Vielleicht ist es aber auch nicht erstaunlich, dass das große Wunder, das sich in jedem Augenblick ereignet, meist hinter einem Schleier von Selbstverständlichkeit verborgen liegt. Es hat nämlich schlicht mit der Art zu tun, wie unser Gehirn Eindrücke verarbeitet. So wunderbar unser Gehirn und unsere Fähigkeit zu denken ist, es hat auch eine große Schattenseite. Die meisten Wahrnehmungen werden nämlich vom Gehirn als bekannt und damit als alt und bereits dagewesen behandelt.

Wenn wir einatmen, gaukelt unser Gehirn uns vor, dass wir den Vorgang kennen und wir bereits tausende Male auf die gleiche Weise eingeatmet haben. Wenn aber etwas bekannt ist, dann nimmt unsere Aufmerksamkeit dramatisch ab und wir übersehen das Einzigartige, das sich hier ereignet. Leider beschränkt sich dieser Vorgang, vieles als selbstverständlich zu nehmen, nicht aufs Atmen oder unseren Körper, der in jedem Augenblick zu neuer Lebendigkeit erwacht, sondern prägt sogar den Kontakt zu den liebsten und wichtigsten Menschen in unserem Umfeld. Welch ein Verlust!

 

Wieder und wieder aufwachen!

Der Verlust, der durch den Schleier der Selbstverständlichkeit entsteht, ist sogar noch viel tiefgreifender als wir zunächst glauben mögen. Wenn wir uns nämlich nicht mehr vom Leben berühren und ergreifen lassen und das Wunder des Lebens empfinden, ist unsere Seele verloren – verloren in der Funktionalität des Alltags und des Denkens, abgeschottet in einer flachen, sinnentleerten und oberflächlichen Konsumwelt, in der es nur um die persönliche Bedürfnisbefriedigung – also um das persönliche kleine Glück – geht.

Wenn wir daher das Wunder von Bethlehem spüren wollen und dem Geheimnis des Lebens nahekommen wollen, das sich fortwährend mitten in unserem Leben vollzieht, geht es darum, zu realisieren, dass nichts selbstverständlich ist – kein einziger Atemzug, kein Lächeln und kein noch so alltägliches Geschehen! Können wir spüren, wie sich in jedem kleinsten Geschehen das Unbegreifliche und Unermessliche offenbart?

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine im Herzen friedliche Advents- und Weihnachtszeit!

Gegenwart
Wie nüchtern klingt doch dieses Wort!
Kaum passiert man diese schmale Pforte
Ergießt sich eine Flut an Köstlichkeiten
Ein Atemraum so frei wie Flügel
Ein Korpus durchströmender Lebendigkeit
Das Licht der Sonne in tausenderlei Farben
Die große Symphonie der Klänge, die niemand spielt

Wie trüb ist oft der Blick
Wie taub die Ohren
Beschäftigt der Geist mit altbekannten Gedanken
Und vermeintlichen Wichtigkeiten

Unter dem Schleier
Einer allzu vertrauten Welt
Brandet die immer junge Flut voll kleiner Wunder:
Gegenwart
(Richard Stiegler)

 

ÜBUNG: Der Filter der Selbstverständlichkeit

  • Stelle dir selbst mehrere Minuten immer wieder nacheinander folgende Fragen: Wie nimmst du die Dinge als selbstverständlich hin? Welche Wirkung hat das auf dein Erleben und deine Bezogenheit?

  • Dann atme tief durch, dehne und strecke dich körperlich und reinige dich bewusst von allem Denken und Wissen.

  • Dann stell dir mehrere Minuten lang die Frage: Wie offenbart sich das Leben jetzt?

  • Dann spür, welches Erleben sich dabei innerlich gerade ausbreitet: Lass dazu einen Körperausdruck auftauchen und nimm ihn ein. Welche Empfindungen, welche Gefühle entstehen jetzt? Lass dazu ein inneres Bild auftauchen… Lass dir Zeit, das innere Erleben zu erforschen und darin einzutauchen …

  • Erkunde am Schluss die Frage: Wenn dir die Kostbarkeit des Lebens bewusst ist, wie lebst du dann deinen Alltag?