Beitrag
Achtsames Leben – Im Garten Eden
von Richard Stiegler
Mit den Augen der Liebe sehen wir die Schönheit in jedem Kieselstein, in jedem Blatt und in jedem schlichten Schritt, den wir gehen. Die Zärtlichkeit eines empfindsamen Herzens kann alles, jeden Gegenstand, jedes Wesen und jede Handlung in eine Kostbarkeit verwandeln. Der Garten Eden in seiner Vollkommenheit ist somit keine biblische Fiktion, sondern ein in unserem Herzen verborgenes Land. Kaum öffnet sich unsere Liebe, schon sehen wir überall Schönheit, Vollkommenheit und Einzigartigkeit.
Doch genauso schnell, wie sich unser Herz unvermittelt öffnen kann, kann es wieder von Schleiern der Gewohnheit, der Funktionalität, der Zielgerichtetheit, aber auch von negativen Emotionen überzogen werden. Dann kann sich das schönste Naturschauspiel vor unseren Augen abspielen, ohne dass wir es empfinden können. In diesen Zeiten ist ein Kieselstein nur ein banaler Stein und ein Blatt nicht der Rede wert. Ein Schritt dient lediglich der Fortbewegung und ein Mensch, dem wir begegnen, wird in die eigene Welt eingebaut und nicht mehr als das erkannt, was er oder sie ist: ein kostbares einzigartiges Wesen. Die Pforten des Garten Edens in unserem Herzen haben sich geschlossen und wir leben in einer profanen Welt der Oberflächlichkeit und Selbstverständlichkeit.
Der Schleier der Gewohnheit
Sind wir aus dem Paradies wie Adam und Eva vertrieben worden? In gewisser Weise schon, denn ein natürlicher Mechanismus in unserem Gehirn legt immer wieder einen Schleier der Selbstverständlichkeit über alle Erfahrungen. Alles, was uns tagtäglich umgibt, ist uns nach kürzester Zeit so vertraut und gewohnt, dass die Wahrnehmung dafür systematisch abnimmt. Unser Gehirn, das ständig darum bemüht ist, energieeffizient zu arbeiten, schaltet im wahrsten Sinne des Wortes ab. Für die alltägliche Wahrnehmung, die auf Funktionalität getrimmt ist, genügt es, die Dinge nur sehr oberflächlich abzutasten. Das ist effizient und fürs Überleben ausreichend, aber unserer Seele genügt dies nicht.
Unsere Seele hungert danach, uns tief mit dem Leben und den Dingen zu verbinden und das können wir nur, wenn unsere Wahrnehmung auf Empfang geschaltet ist und wir uns innerlich berühren lassen. So wunderbar unser Gehirn ist und so unabdingbar für unser Überleben und Funktionieren als Mensch, so ist es durch seine Funktionsweise doch gleichzeitig eine unserer größten Herausforderungen. Mit seiner Grundtendenz, aus jeder Erfahrung ein Konzept zu bilden und aus jedem Vorgang ein Muster werden zu lassen, welches dann automatisch und ohne Bewusstheit in uns abläuft, bildet es die Grundlage dafür, dass im Alltäglichen kaum noch echte Begegnungen entstehen.
Begegnungen öffnen
Eine Begegnung nämlich kann nur als solche bezeichnet werden, wenn uns etwas ergreift oder berührt, also in unsere vertraute Welt einbricht. Nur dann wird das Erlebte zu einer echten Erfahrung, die als „neu“ in unserem Gehirn behandelt wird und entsprechend Spuren hinterlässt. Eine echte Begegnung öffnet die Filter in unserem Geist und der Schleier der Selbstverständlichkeit verzieht sich wie ein Nebel, den die Sonne verscheucht.
Ob wir einem Menschen, einer Pflanze oder uns selbst in der Tiefe begegnen, immer entsteht dabei eine Sensitivität, die wir in unserer Alltagswahrnehmung vermissen. Erst in der Begegnung sind wir empfänglich und berührbar, so dass wir ergriffen werden. Es entsteht eine gefühlte Verbindung mit der Gegenwart und wir können die Einzigartigkeit und Kostbarkeit des Augenblicks ermessen. So gibt es in jedem Moment die Möglichkeit, von einer farblosen und lieblosen Welt der Selbstverständlichkeit zu einer leuchtenden Welt voller Freude, Kostbarkeit und Mitgefühl zu wechseln.
Unsere Haltung ist der Türöffner
Dies kann nicht nur in besonderen Momenten geschehen, in denen sich unser Herz durch einen berückend schönen Sonnenuntergang öffnet, sondern auch bei schlichten Tätigkeiten und Gegenständen unseres Alltags. Doch anders als bei dramatischen Sonnenuntergängen, die uns ergreifen, sind die Alltagsgegenstände zu unscheinbar, als dass sie von sich aus die Kraft hätten, den Schleier unserer Gewohnheit zu durchdringen. Bei schlichten, unscheinbaren Gegenständen, wie einer Teetasse oder einem Bleistift, braucht es eine bewusste innere Haltung, die wir aktiv einnehmen müssen. Nämlich die Haltung, die Dinge als Kostbarkeit zu behandeln.
Wie behandeln wir etwas, das für uns kostbar ist? Sicherlich nicht grob oder beiläufig, sondern mit großer Behutsamkeit und Bewusstheit. Automatisch entstehen dadurch eine hohe Sensitivität und eine Zärtlichkeit für den Gegenstand. Mit der Zärtlichkeit aber öffnet sich auf natürliche Weise unsere Liebe und der Gegenstand, der zunächst nur als Kostbarkeit behandelt wurde, wird nun als Kostbarkeit empfunden.
Achtsamkeit heißt, Menschen und Dinge als Kostbarkeiten zu behandeln
Achtsamkeit im Alltag ist die Praxis, die Dinge als Kostbarkeiten zu behandeln. Dann sind wir automatisch bewusster, empfänglicher, sensitiver, sorgfältiger, langsamer, wacher, behutsamer, ja sogar zärtlicher. Eine einfache Tätigkeit wird dann zu einer erfüllenden Handlung und jede unscheinbare Arbeit wird jede Menge Schätze in sich bergen. Auch unsere Beziehungen, die nicht selten im Alltag flach und lieblos sind, können wir durch diese Haltung neu beleben. Denn auch das Gegenüber spürt sofort, ob er oder sie „normal“ oder als Kostbarkeit behandelt wird.
In der Phase der Verliebtheit behandeln sich Paare ganz natürlich mit großer Achtsamkeit. Wir wissen alle, wie nährend es ist, wenn uns jemand liebt und uns die volle Aufmerksamkeit schenkt. Hier sind wir im wahrsten Sinne eine Kostbarkeit für die andere Person und unser Wert wird durch ihre hohe Aufmerksamkeit bestätigt. Warum sollten wir darauf warten, bis sich eine Liebesbegegnung ereignet, wenn wir den Schlüssel zur Kostbarkeit des Lebens in den Händen halten?
ÜBUNG: Sich für die Kostbarkeit des Lebens öffnen
- Begib dich auf einen Spaziergang in der Natur in einer kontemplativen Haltung. Mach dir dabei zunächst bewusst: „Nichts ist selbstverständlich. Kein Atemzug, kein Schritt, kein Kieselstein, kein Sonnenstrahl, …“
- Spür, was sich dabei ausbreitet und wie du die Dinge dann betrachtest.
- Dann gib dich noch tiefer in diese Haltung hinein und stell dir vor, du bist im Garten Eden unterwegs. Schau auf die Schönheit, Einzigartigkeit und Vielfalt des Lebens. Was breitet sich dabei aus?
- Dann experimentiere im alltäglichen Umfeld mit irgendeiner gewöhnlichen Tätigkeit: Behandle 10 Minuten lang alles als Kostbarkeit – mit einer großen Zärtlichkeit und Sorgfalt. Was macht das mit dir?