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Achtsames Leben – Ein Zauberwort liegt in der Luft

von Richard Stiegler

Derzeit geht allerorts das Zauberwort „Öffnung“ um. Nach und nach sollen die Schulen wieder geöffnet werden, die Läden, die Biergärten und die Übernachtungsbetriebe. Und auch an den Grenzen in Europa deutet sich an, dass die Schlagbäume zum Sommer hin wieder verschwinden werden. Wer am letzten Wochenende bei strahlendem Sonnenschein an einem See oder in den Bergen unterwegs war, konnte sowieso den Eindruck bekommen, die Normalität sei schon wieder zurückgekehrt. Es war eine Freude zu sehen, wie so viele Menschen den Frühling und das Gefühl von Freiheit in vollen Zügen genossen haben. Ganz klar: Auch wenn es noch eine Weile dauern wird, bis nach und nach alle Einschränkungen verschwinden werden, etwas liegt bereits in der Luft und flüstert: „Öffnung… Öffnung… Öffnung…“

 

Momente der Öffnung

In diesem Versprechen schwingt offensichtlich etwas mit, das eine Grundsehnsucht von uns Menschen anspricht. Wir genießen Momente von Öffnung, zum Beispiel im Urlaub, wenn wir aus dem Alltagsgetriebe aussteigen können. Meist jedoch ist uns nicht bewusst, was dabei innerlich geschieht. Wir lieben den weiten Horizont in den Bergen oder am Meer, aber ist es wirklich die äußere Weite, die das Gefühl von Öffnung und Freiheit erzeugt? Oder öffnet sich in diesem Augenblick der innere Horizont?

Obwohl wir uns nach Öffnung sehnen, ist vielen Menschen keineswegs bewusst, was sich in dieser Sehnsucht verbirgt. Daher macht es Sinn, sich tiefer damit zu befassen: Was ist das Wesen von Öffnung eigentlich? Was in uns öffnet sich und wohin öffnen wir uns? Was geschieht dabei in unserer Seele und in unserem Körper? Ist dieses Potential der Öffnung nur im Urlaub da? Braucht es besondere Umstände?

 

Öffnung als inneres Potential

Die letzte Frage muss man eindeutig mit „Nein“ beantworten. Selbstverständlich kann es hilfreich sein, am Meer zu stehen und auf die Weite des Himmels zu schauen, aber wie oft sind wir am Meer und können keine Öffnung empfinden? Und umgekehrt kann es sein, dass mitten im Alltag plötzlich der innere Himmel aufreißt und wir einen Moment von Freiheit verspüren. Die Erfahrung von Öffnung ist offensichtlich ein inneres Potential. Wir können sie im Urlaub genauso erfahren, wie im Büro oder auf dem Meditationskissen. Zugespitzt könnte man es auch so formulieren: Wir können eine Öffnung sogar mitten in einer Pandemie erfahren, wenn Schulen, Gasthäuser, Kulturstätten und Grenzen geschlossen sind. Wie oft haben mir in den letzten Monaten Menschen berichtet, wie überrascht sie davon waren, dass die erzwungene Reduktion durch die Pandemie ihnen neue Freiräume eröffnet hat?

 

Was uns eng macht

Wenn sich aber die eigentliche Öffnung – das Potential zur Freiheit – im Inneren vollzieht, dann stellt sich die Frage, was ist es, das sich öffnet? Oder anders gefragt: Was verstellt oder verschließt unseren inneren Horizont? Was macht uns gerade eng oder sperrt uns ein? Wer sich ernsthaft diese Frage stellt, wird immer wieder eine Menge innerer Beschränkungen entdecken können. Vielleicht sind es bestimmte Gedanken oder Themen, die uns besetzen. Manchmal sind es auch Vorstellungen oder Überzeugungen, an denen wir krampfhaft festhalten und welche dann emotionale Wirbel auslösen oder starke Widerstände erzeugen.

Solange wir nicht sehen, was unseren inneren Horizont und unser Herz verschließt, können wir kaum aus der inneren Enge aussteigen. Es ist, als ob wir unbewusst nur auf die dunklen Wolken schauen, die durch unseren Geist ziehen und uns dabei immer mehr auf diese Gedankenformationen mit unserem Blick fixieren. Wie klein wird doch die Welt, wenn wir in Gedanken und Gefühle verstrickt sind?

 

Der innere Horizont ist weit

Dabei vergessen wir vollkommen, dass das Bewusstsein selbst, in dem diese Gedanken und Gefühle auftauchen, unendlich weit ist. Alles hat darin Platz. Alle Gefühle und Gedanken können darin unterschiedslos auftauchen – kommen und gehen. Immer gibt es diesen weiten, unbegrenzten Raum des Gewahrseins, der so viel größer ist als all das, was uns beschäftigt. Gäbe es die Weite des Himmels nicht, könnten dann Wolkenstimmungen am Himmel erscheinen? Und gäbe es nicht diese Offenheit eines unbegrenzten Bewusstseins, könnten sich darin Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle abbilden?

Offenheit ist immer da. Sie ist die Grundlage für alles, was uns beschäftigt hält, und damit in jeder gefühlten Enge vorhanden. Die Kunst besteht darin, den Blickwinkel zu ändern. Wahrlich: Öffnung liegt in der Luft. Jetzt und immer!

 

ÜBUNG: Das Potential der Offenheit

  • Reflektiere darüber, was gerade deinen inneren Raum verstellt: Was hält dich gerade beschäftigt? Was macht dich innerlich eng?
  • Lass jetzt auch die Gefühle zu den Themen auftauchen, die dich beschäftigen und gib ihnen einen Gestaltausdruck (Lass ein Bild oder eine Gebärde dazu auftauchen).
  • Dann mach dir bewusst, dass du diese Gefühle und Gedanken haben darfst! Du darfst innerlich beschäftigt sein, du darfst dich eng und unfrei fühlen! Du darfst spüren was du spürst! Erkunde, was sich mit dieser Erlaubnis innerlich ausbreitet.
  • Dann überlass diese Gefühle sich selbst. Dehne und strecke dich körperlich, und gähne dabei! Schaff Raum im Körper.
  • Werde jetzt innerlich stiller und lausche auf den offenen Raum des Gewahrseins, in dem diese Gefühle und Gedanken entstehen. Sprich das Wort „Offensein“ mehrmals in dich hinein und tauche innerlich in den Klang dieses Wortes ein.
  • Fühle, was sich innerlich ausbreitet, wenn du in diese Offenheit hineintauchst: Wie zeigt sich diese Öffnung im Körper? Welcher Körperausdruck taucht dazu auf oder unterstützt die Öffnung. Wie erfährst du Offenheit in deiner Seele? Lass dir Zeit, die Erfahrung von Offenheit zu verkosten.
  • Wechsle im weiteren Verlauf des Tages mehrmals die Perspektive: Schau innerlich immer wieder kurz auf das Offensein selbst, welches allem, was dich beschäftigt, zugrunde liegt…