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Achtsames Leben – Es wird immer heißer

von Richard Stiegler

In Dubai findet in diesen Tagen wieder einmal eine internationale Klimakonferenz statt. Fast hätte man dieses Thema bei all den aktuellen Kriegen und Konflikten in der Welt vergessen können. Dabei wurde gerade erst gemeldet, dass das Jahr 2023 wohl das heißeste seit 125.000 Jahren wird. Tatsächlich hat die weltweite Klimaerhitzung sogar nochmal an Fahrt aufgenommen, wie Klimaforscher*innen verwundert feststellen mussten.

Erinnern wir uns: In diesem Sommer gab es kaum eine Woche, in der nicht neue Extremwetterereignisse wie Hitze und Dürre, Starkregen, Überschwemmungen und Waldbrände gemeldet wurden. Gesellschaftlich hat man indes den Eindruck, als ob sich gerade ein starker Widerstand gegen einen allzu schnellen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft etabliere. Denken wir an die Massivität, mit der das Heizungsgesetz bekämpft wurde. „Man darf die Gesellschaft nicht überfordern“, ist das Argument, das überall zu hören ist. Könnte es sein, dass nicht die Politik mit ihren Gesetzen uns überfordert, sondern der Klimawandel selbst und die Notwendigkeit, darauf zu reagieren?

 

Politik als Stellvertreterin

Wie leicht ist es doch, die Verantwortung der Politik zuzuschieben. Schließlich ist sie es, welche die Aufgabe hat, auf gesellschaftliche und globale Veränderungen zu reagieren und entsprechende Rahmenbedingungen mit Gesetzen abzusichern. Wenn uns die Maßnahmen zu lasch erscheinen und die Politik uns nicht vor Gefahren wie den Klimawandel oder die nächste Infektionswelle schützt, hat sie ihre Aufgabe verfehlt und wir beschweren uns. Wenn sie aber starke Maßnahmen ergreift, die uns dann in unserer Lebensführung betreffen – wie zum Beispiel beim Heizungstausch oder in der Coronakrise –, empört uns das auch.

Es geht nicht darum, die Politik zu entschuldigen oder aus der Verantwortung zu entlassen. Nein, sie hat die Aufgabe, um konstruktive Antworten auf die vielen widersprüchlichen Bedürfnissen, Anforderungen und Gefahren zu ringen. Aber genauso haben wir Bürger*innen eine Verantwortung dafür, unseren Frust über notwendige Veränderungsprozesse nicht an der Politik auszulassen. Sonst verhalten wir uns wie kleine Kinder, die ihre Frustration über klare Regeln den Eltern anlasten, anstatt zu sehen, dass diese für das Gemeinwohl der Familie und auch für das Wohl des Kindes wichtig sind.

 

Über Autoritätsmuster

Unsere grundlegenden Erfahrungsmuster bezüglich Autoritäten werden bereits sehr früh im Leben in der Beziehungsdynamik mit unseren Eltern geprägt. Schließlich waren diese die allmächtigen „Götter“ in unserem Leben, die alles konnten und welche die Regeln des Zusammenlebens bestimmt haben.

Haben wir dort erfahren, dass wir ihnen vertrauen können? Stand unser eigenes Wohl und das Wohl der ganzen Familie im Zentrum – oder sind unsere Eltern nur um sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse und Schwierigkeiten gekreist? Wurden wir übersehen, überwältigt und alleine gelassen – oder wahrgenommen, getragen und in schwierigen Phasen begleitet?

 

Was bei einer Frustration geschieht

Betrachten wir einmal genauer, was geschieht, wenn Eltern Grenzen setzen. Es fällt auf, dass selbst bei einer begründeten Grenze, die Eltern setzen – wie zum Beispiel an der Supermarktkasse, wo kleine Kinder verlockt werden, zuzugreifen –, diese typischerweise nicht sofort akzeptiert wird. Im Gegenteil, eine Begrenzung führt im Kind zu einem Frustrationsprozess, der nicht selten von starken Emotionen begleitet wird.

Dabei richtet sich der Frust meist nicht auf die Begrenzung selbst, sondern gegen die Eltern, welche die Grenze aussprechen. Die Eltern scheinen Schuld daran zu haben, dass man die Frustration fühlt. Im Idealfall wissen Eltern, dass ein klares „Nein“ niemals das Ende eines Vorgangs bedeutet, sondern der Beginn eines seelischen Verdauungsprozesses ist. Wenn ihnen das bewusst ist, werden sie die emotionalen Wellen des Kindes akzeptieren – und dabei klar und wohlwollend bleiben. Wenn das Kind sich in seinen Gefühlen angenommen und nicht alleingelassen fühlt, beruhigt es sich meist sehr schnell und fügt sich ein. Das Vertrauen zwischen Kind und Eltern nimmt dann keinen Schaden, sondern vertieft sich sogar, da das Kind sich in seiner Frustration gehalten fühlt.

 

Wenn das Vertrauen einen Knacks bekommt

Anders verhält es sich jedoch, wenn das Kind in seinem Frustrationsprozess alleingelassen oder vielleicht sogar darin beschämt oder bestraft wird. Durch die Verletzung während des seelischen Verdauungsprozesses des Kindes wird die Beziehung zu den Eltern schwer belastet und das grundsätzliche Vertrauen zu ihnen bekommt einen Knacks. Je tiefer diese Verletzungen sind und je öfter sie sich wiederholen, desto gravierender verändert sich das Verhältnis zu den Eltern. Immer mehr misstrauen wir (zu Recht) den Menschen, die wir eigentlich lieben, und denen wir ursprünglich bedingungslos zugewandt waren.

Leider bleiben diese Grunderfahrungen nicht auf unsere Eltern beschränkt, sondern bilden die Basis für unser Erleben und unseren Umgang mit allen Autoritätsfiguren, wie zum Beispiel mit Vorgesetzten oder eben auch Politiker*innen. Sogar in unserer Beziehung zur „letzten Autorität“ – nämlich zum Leben selbst, sinnbildlich in der Gestalt Gottes – können sich diese Grunderfahrungen widerspiegeln. Auf diese Weise kann zum Beispiel ein strafendes Gottesbild entstehen. Wie viele Menschen übertragen wohl unbewusst weiterhin als Erwachsene ihre Grunderfahrungen, die sie mit ihren Eltern oder Lehrer*innen in der frühen Kindheit oder auch der Pubertät gemacht haben, auf Autoritätsfiguren?

 

Der gesunde Boden des Vertrauens

Ob wir ein grundsätzliches Vertrauen ins Leben, in Menschen und in Autoritäten fühlen oder nicht, hat für uns und unsere Beziehungen eine große Auswirkung. Denn wie gehen wir durch die Welt, wenn wir im Misstrauen leben? Und wie, wenn wir auf eine grundsätzliche Art (das meint nicht naiv) vertrauen?

Vertrauen ist gleichsam der gesunde Boden, in dem die Seele und unsere Beziehungen wurzeln und sich natürlich entfalten können. Ohne Vertrauen kann nichts Konstruktives geschehen. Nur wenn wir ein grundlegendes Vertrauen ins Leben haben, fühlen wir uns sicher und damit frei. Und nur, wenn wir anderen Menschen aus diesem Vertrauen heraus begegnen, können wir uns einlassen und wirklich beziehen. Erst dann ist wahrhaftige Begegnung möglich. Daher hat es eine so große Bedeutung, dass wir uns unsere grundlegenden Beziehungsprägungen mit unseren Eltern bewusst machen und diese transformieren. Denn wie auch immer sie sind, sie sind die Matrix für unser späteres Beziehungsleben und unser Sein in der Welt.

 

ÜBUNG: Beziehungsmuster und Vertrauen

  • Reflektiere darüber, welche Erfahrungen du als Kind mit zentralen Autoritätsfiguren (z.B. Eltern, Großeltern, Lehrer*innen,…) gemacht hast? Stand dein eigenes Wohl und das Wohl der ganzen Familie im Zentrum – oder sind die zentralen Figuren nur um sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse und Schwierigkeiten gekreist? Wurdest du übersehen, überwältigt und alleine gelassen – oder wahrgenommen, getragen und in schwierigen Phasen begleitet?

  • Welches Grundgefühl zu Autoritätsfiguren oder zum Leben im Allgemeinen hat sich dadurch in dir gebildet? Lass dazu ein inneres phantasievolles Bild auftauchen.

  • Welches Element oder welche Stelle im Bild drückt am stärksten dein Grundgefühl aus?

  • Schlüpf jetzt in dieses Element hinein und fühle es von innen her? Spür, was sich ausbreitet und lass dazu einen ganzkörperlichen Gestaltausdruck auftauchen. Lass dir Zeit, zu spüren und zu erkunden, in welche innere Welt du hier kommst.

  • Wie ist hier deine Beziehung zu dir selbst? Und deine Beziehung zu Autoritätsfiguren oder zum Leben im Ganzen? Welche grundlegende Überzeugung ist hier entstanden?

  • Welche zentrale Beziehungserfahrung benötigt deine Seele, um wieder ganz ins Vertrauen zurückzufinden oder um das Vertrauen vertiefen zu können?

  • Stell dir so konkret wie möglich vor, dass diese heilsame Beziehungserfahrung geschieht, und spür, was sich dabei in deiner Seele ausbreitet. Lass dir Zeit, das ganzheitlich zu verkosten…

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