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Achtsames Leben – Ein Gespenst geht um
von Richard Stiegler
Ein Gespenst geht derzeit um: Wahlen! Im Osten Deutschlands wurde gerade gewählt, in Österreich und Amerika stehen die Wahlen kurz bevor. Und überall lässt sich beobachten, wie populistische Meinungen in der öffentlichen Debatte überhandnehmen. Dabei dominiert immer wieder ein Thema die Diskussionen: der Umgang mit „irregulärer Migration“. Die Parteien überbieten sich mit Vorschlägen, wie man sich gegen die „Flut von Migranten“ abgrenzen kann und es findet sich kaum jemand, der seine Stimme erhebt, um für Solidarität und Integration einzutreten.
Allein diese Worthülse – „irreguläre Migration“ – verschleiert die eigentliche Problematik. Es geht nämlich um Menschen – Frauen, Männer und Kinder – mit persönlichen Schicksalen. Die meisten von ihnen hatten niemals im Sinn, ihre Heimat zu verlassen. Aber die politischen, religiösen oder finanziellen Umstände sind so katastrophal, dass sie sogar ihr Leben aufs Spiel setzen, um sich und ihren Familien eine lebenswerte Zukunft in einem anderen, fremden Land zu ermöglichen. Wir könnten sie also auch „Hilfesuchende“ nennen. Sind wir so abgestumpft, dass wir uns nicht mehr einfühlen können, was es bedeutet, bettelarm zu sein, politisch bedroht zu werden oder ohne Zukunftsperspektive leben zu müssen?
Niemand lebt aus sich selbst heraus
Die Familie meines Bruders hat sich vor Jahren um einen jungen afghanischen Mann gekümmert. Ohne die Hilfe meines Bruders wäre dieser abgewiesen worden. Und das nur, weil ein schlechter Übersetzer es in den Asylverhandlungen unmöglich gemacht hatte, dass dieser junge Mann seine Geschichte, die von Gewalt und Bedrohung durchzogen ist, erzählen konnte. Nach langen Jahren des Bangens ist er heute anerkannt und hat unter großen Mühen den Beruf des Automechanikers erlernt und sogar kürzlich geheiratet. Ohne die Unterstützung der Familie meines Bruders und vieler anderer Menschen wäre diese Integrationsgeschichte niemals möglich geworden.
Ist das in unserem eigenen Leben nicht auch so? Wieviel Unterstützung haben wir bekommen (und bekommen wir laufend), damit wir uns als Mensch entfalten und unseren Weg gehen konnten? Niemand lebt aus sich selbst heraus. Ohne die Unterstützung durch Eltern, Geschwister, Freund*innen, Lehrer*innen, Kolleg*innen, gesellschaftliche Strukturen und die Natur, die unsere Lebensgrundlage ist, kann gar nichts geschehen. Gegenseitige Unterstützung und Solidarität ist damit kein Luxusgut von reichen Gesellschaften oder mitfühlenden Menschen. Nein, es ist das grundlegende Lebensprinzip, das Entwicklung im Kleinen und Großen erst möglich macht.
Aufbauende Prozesse
In der Biologie spricht man von „aufbauenden“ Prozessen, die Wachstum und Entfaltung von lebenden Geschöpfen und Systemen ermöglichen und gleichzeitig die Komplexität des gesamten ökologischen Systems zunehmen lassen. (Für Biologen und Systemforscher*innen ist klar, dass Komplexität und nicht Homogenität ein wesentliches Merkmal für ein gesundes ökologisches System ist.) Dabei ist das zentrale Prinzip, das allen aufbauenden Prozessen zugrunde liegt, die Kooperation – also das Zusammenwirken der beteiligten Elemente. Mit anderen Worten: ohne Zusammenarbeit kann nichts Konstruktives geschehen.
Wie schnell vergessen wir das doch, wenn wir uns in irgendeiner Weise bedroht fühlen? Wie leicht glauben wir, dass Abgrenzung die einzig mögliche Art ist, sich zu behaupten? Und wie schnell verhärten wir dann in Opfergefühlen und starren Sichtweisen?
Bedrohungsgefühle und ihre Ursachen
Natürlich stoßen wir im Alltag immer wieder auf Szenarien, die uns bedrohen. Bei Licht betrachtet machen allerdings die Situationen, die uns real bedrohen, nur einen Bruchteil unserer Bedrohungsgefühle aus. (Die allerwenigsten Menschen sind zum Beispiel von den Hilfesuchenden, die in unser Land kommen, tangiert, geschweige denn bedroht.) Die meisten Ängste entstehen daher nicht aus realen äußeren Bedrohungen, sondern aus alten Erfahrungen und inneren Mangelzuständen, die in uns schlummern und durch bestimmte Umstände aktiviert werden.
Trotzdem gilt es, Ängste – ob real oder nicht – ernst zu nehmen. Denn wenn wir uns mit ihnen nicht bewusst auseinandersetzen, werden sie uns unbewusst bestimmen. Folglich denken wir, dass die äußeren Auslöser unserer Ängste die eigentlichen Ursachen sind. Entsprechend suchen wir Zuflucht zu Schutzmechanismen und verhärten oder grenzen uns ab. In dieser Logik erscheint uns Abgrenzung als die einzig richtige Art zu reagieren.
Sich der Angst zuwenden
Wenn wir nicht mehr wie das Kaninchen vor der Schlange auf die vermeintlichen Auslöser unserer Ängste starren, sondern uns den Ängsten selbst zuwenden, können wir spüren und erkunden, was uns hier bewegt. Erst dann haben wir die Möglichkeit, uns um unsere Seele zu kümmern, bis wir wieder in uns verankert sind und ein Vertrauen ins Leben spüren. Erst jetzt sind wir frei, die Auslöser unserer Ängste mit neuen Augen zu sehen und wir werden feststellen, dass das Monster, das uns bedroht hat, verschwunden ist. Natürlich gibt es weiterhin schwierige Situationen, die Intelligenz und Mitgefühl von uns selbst und der Gesellschaft erfordern. Aber Intelligenz und Mitgefühl können sich nur dort entfalten, wo wir aus den Fängen der Angst entlassen sind.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass es durchaus möglich ist, dass manchmal auch Abgrenzung ein adäquates Mittel ist, das im Einzelfall seine Berechtigung hat. Aber dabei sollte niemals der höhere Wert vergessen werden – die Unterstützung der Zusammenarbeit allen Lebens. Nur dort, wo Abgrenzung der Kooperation dient, unterstützt sie aufbauende Prozesse und hat ihre Berechtigung; nicht dort, wo sie nur ein Schutzschild unserer Angst ist.
Mit anderen Worten: Die eigentliche (persönliche und gesellschaftliche) Aufgabe liegt darin, sich mit unseren Ängsten zu beschäftigen und davon frei zu werden. Dann werden wir auch die Herausforderungen unserer Zeit mit Intelligenz und Herz angehen können.
ÜBUNG: Sich von der Angst befreien
- Lass eine Sache auftauchen, die dir Angst macht.
- Wodurch genau wird diese Angst in dir ausgelöst?
- Wende dich jetzt der Angst selbst zu: Wie erfährst du es innerlich, wenn dich diese Angst besetzt? Wie reagiert dein Körper? Welcher Körperausdruck entsteht dazu? Lass dazu eine Gebärde entstehen.
- Nimm die Gebärde ein und erkunde, in welche innere Welt du dabei kommst? Welche Gefühle tauchen hier auf? Welche inneren Bilder entstehen? Wenn du in diesem Zustand etwas sagen würdest, was würdest du sagen? Und in welchem Tonfall würdest du es sagen?
- Gestatte dir all diese Gefühle und lass dir Zeit, zu spüren, was sich ausbreitet, wenn all diese Gefühle da sein dürfen und einen annehmenden Raum bekommen.
- Dann frage dich: Mit welchen grundlegenden Erfahrungen oder Beziehungen haben diese Gefühle zu tun? Was sind die Ursprünge dieser Angst?
- Was ist der eigentliche innere Mangel, der sich hier verbirgt? Was fehlt dir hier innerlich? Nach was sehnst du dich hier in der Tiefe?
- Stell dir jetzt so konkret wie möglich vor, dass sich diese Sehnsucht erfüllt und erkunde, was sich dann innerlich in Körper und Seele ausbreitet. Lass dir Zeit dabei, bis dich diese neue Qualität in deiner Ganzheit ausfüllt und durchflutet.
- Wenn du mit dieser neuen Qualität in Kontakt bist, wie bist du dann in der Welt? Und wie schaust du dann auf den äußeren Auslöser deiner Angst?