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Achtsames Leben – Die Sehnsucht nach Frieden

von Richard Stiegler

Menschen sehnen sich von jeher nach Frieden. In allen Weltreligionen steht der Friede im Zentrum ihrer religiösen Lehre (auch wenn manche religiöse Führer*innen wahre Kriegstreibende sind). Warum gelingt es uns Menschen dann nicht, friedlich und respektvoll zusammenzuleben? Immer wieder entstehen ethnische oder religiöse Konflikte oder sogar Angriffskriege wie derzeit der Krieg in Europa, der den Menschen in der Ukraine und in Russland so viel Leid bringt und gleichzeitig weltweite Auswirkungen und Verwerfungen nach sich zieht.

Obwohl wir sämtliche Ressourcen zur Verfügung haben, um den Hunger auf der Welt und auch ökologische Krisen zu meistern, obwohl wir Instrumentarien wie zum Beispiel die Vereinten Nationen geschaffen haben, um Krisen zu entschärfen, und uns weltweit auf Menschenrechte geeinigt haben, brechen immer wieder neue Konflikte und in der Folge verheerende Hungerkatastrophen aus. Könnte man da nicht manchmal am Menschen verzweifeln?

 

Quälende Fragen

Offensichtlich zeigen sich global die gleichen Entgleisungen wie im persönlichen Leben, wo auch immer wieder innere seelische Anteile destruktiv ausbrechen und unsere Beziehungen belasten oder manches Mal sogar zerstören. Haben wir nicht alle schon schmerzliche Konflikte erlebt, an denen wir selbst einen großen Anteil hatten? Kennen wir nicht alle Momente, in denen wir mit Egostrukturen identifiziert waren und dann im wahrsten Sinne des Wortes blind agiert haben? Wo bleibt in diesen Momenten die jahrelang geübte Achtsamkeit? Was ist unsere innere Reife nach einem langen Bewusstheitsweg wert, wenn uns immer wieder alte destruktive Muster besetzen, die dem eigenen Frieden und dem Frieden in der Welt schaden?

 

Es besteht immer eine Gefahr
für Suchende auf dem spirituellen Weg,
wenn sie glauben und handeln,
als hätten die zehntausend Narren,
die so lange in ihrem Innern das Sagen hatten,
mit einem Mal all ihre Siebensachen gepackt,
und hätten sich aus dem Staub gemacht
oder wären gestorben.

Hafiz

 

Entwicklungen sind nicht linear

Wie leicht vergessen wir, dass die Entwicklung von Reife kein linearer Prozess ist. Selbst wenn wir tiefe Momente von unbedingtem Frieden erfahren, der unsere Ganzheit ausfüllt, bedeutet das nicht, dass alte Muster damit ein für alle Mal transformiert sind. Und auch im Äußeren können gesellschaftliche Errungenschaften, wie demokratische rechtsstaatliche Strukturen, die allen gesellschaftlichen Gruppen die gleichen Rechte zusichern, jederzeit wieder gekippt werden. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass die Entwicklung zu individueller und gesellschaftlicher Reife immer nur zunimmt.

Immer wieder höre ich in Gesprächen von der hoffnungsvollen Vorstellung, dass es zu Bewusstseinssprüngen komme, wenn eine gewisse kritische Masse von Menschen einen gewissen Reifezustand erreicht hätte. So gab es immer wieder Gurus, die prophezeiten, dass sich aufgrund einer gewissen Menge von erwachten oder meditierenden Menschen das Erwachen oder der Friede auf die ganze Menschheit übertragen würde. Leider hat sich diese schöne Idee bisher noch nicht bewahrheitet und die globalen Bewusstseinssprünge, die es zum Beispiel nach großen Katastrophen gab, wie die Einigung auf Menschenrechte oder der Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland, bedeuten nicht, dass diese Prozesse nicht wieder rückgängig gemacht werden könnten. Nein, Bewusstseinsentwicklung im persönlichen wie im globalen Miteinander ist ein zirkulärer, kein linearer Prozess, der ein unermüdliches Dranbleiben erfordert und jederzeit mit Rückschlägen rechnen muss.

 

Mitgefühl und Klarheit

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bemühungen um mehr Bewusstheit, um Reife und um inneren und äußeren Frieden umsonst wären. Wir sollten nur nicht naiv davon ausgehen, dass dadurch im eigenen Leben oder global unbewusste und egoistische Strukturen überwunden seien. Es geht auch nicht darum, überheblich auf andere herabzuschauen, die gerade in den Klauen des Egos gefangen sind. Besonders in den Momenten, in denen das Ego wieder die Macht über uns oder andere ergreift, sind wir gefordert und es zeigt sich erst dann der wahre Grad unserer Reife.

Wie mitfühlend, aber auch wie klar und gelassen können wir uns auf Situationen beziehen, in denen ein Gegenüber in den Klauen des Egos steckt und daraus agiert? Und was mindestens genauso wichtig ist: Wie mitfühlend und klar können wir mit uns selbst sein, wenn sich unser Blickwinkel verengt und wir mit einer Überzeugung oder einer Emotion identifiziert sind? Wieviel Herz haben wir für die Unbewusstheit von uns selbst und von anderen?

 

Der erste Friede

Ohne Frieden zu haben für den Unfrieden in uns und in der Welt leben wir innerlich weiterhin im Kampf. Wenn unser Herz nicht Mitgefühl für Opfer und Täter empfinden kann, sind wir noch in der Spaltung des Egos gefangen. Solange wir das sogenannte „Böse in uns oder in der Welt“ ablehnen und von uns wegschieben, statt es in seiner Verirrung und Verquälung zu umarmen und in unserer Seele zu transformieren, wird es keinen Frieden geben können – für uns nicht und nicht für das Zusammenleben zwischen uns Menschen.

 

Der erste Friede – der Wichtigste – ist der, welcher in die Seelen der Menschen einzieht, wenn sie ihre Verwandtschaft, ihre Harmonie mit dem Universum einsehen und wissen, dass im Mittelpunkt der Welt das große Geheimnis wohnt. Es ist in jedem von uns. Dies ist der wirkliche Friede, alle anderen sind lediglich Spiegelungen davon.

Der zweite Friede ist der, welcher zwischen einzelnen geschlossen wird. Und der Dritte ist der zwischen den Völkern. Doch vor allem sollt ihr sehen, dass es nie Frieden zwischen den Völkern geben kann, wenn nicht der erste Friede vorhanden ist, welcher innerhalb der Menschenseele wohnt.

Hehapa Saka – Black Elk

 

 

ÜBUNG: Das Mitgefühl ausweiten

  • Erinnere dich an das Potential zu Mitgefühl und lass innerlich Situationen von notleidenden Menschen auftauchen, die dein Herz besonders berühren.

  • Betrachte diese Situationen und spüre, was sich dabei innerlich im Erleben ausbreitet:
 Wie erfährst du das Mitgefühl? Was spürst du dabei im Körper? Welche Gebärde taucht dazu auf? Welcher Klang oder welche Musik passt dazu? Wie siehst du die Kraft des Mitgefühls als phantasievolles Bild? Was ist die zentrale Gefühlsqualität, die sich hier ausbreitet?

  • Lass dir Zeit, die Kraft des Mitgefühls im unmittelbaren Erleben zu spüren und darin tiefer einzutauchen…

  • Dann erinnere dich an die Fähigkeit des Herzens, voller Mitgefühl die Ganzheit des Lebens zu umfassen und lass die Worte in dir klingen: „Die Ganzheit des Lebens mit Mitgefühl umfassen“.

  • Spüre, was sich mit diesen Worten im Erleben ausbreitet…

  • Dann schau jetzt bewusst auf alle Menschen, die in unbewussten und destruktiven Verhaltensmustern gefangen sind, und nimm sie in dein Mitgefühl hinein…

  • Dann schau auf dich selbst, auf deine eigenen unbewussten, unreifen oder destruktiven Anteile und Muster und nimm sie in dein Mitgefühl hinein…