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Achtsames Leben – Das Heilige in jedem Grashalm

von Richard Stiegler

Gerade war Ostern, die höchsten Feiertage im christlichen Jahreskreis. Wie immer an Feiertagen werden wir daran erinnert, dass hinter dem Alltag mit seinen Nöten und Schwierigkeiten ein ganz anderes Leben auf uns wartet, welches heilig und unverbrüchlich ist. Ist der Kern der österlichen Geschichte nicht die Auferstehung Jesu – ein Erwachen in die überzeitliche und „heilige“ Dimension des SEINS?

Dieser zeitlose Urgrund liegt jedem Augenblick zugrunde. Daher können wir ihn auch jederzeit berühren, wenn wir nur tief genug nach innen gehen. Es ist also nicht verwunderlich, dass viele Menschen immer wieder momentweise ein sehr tiefes Einverstandensein mit der Ganzheit des Lebens erfahren. Dabei tauchen sie in einen veränderten Bewusstseinszustand ein, in dem sie spüren, dass alles zutiefst in Ordnung ist. In diesem Zustand können sie die Heiligkeit in jedem Geschöpf – in jedem Stein und jedem Grashalm – empfinden. Könnte es sein, dass uns das Heil viel näher ist, als wir das üblicherweise erwarten?

 

Was ist heilig?

Wenn wir das Wort „heilig“ einmal näher betrachten, entdecken wir zwei Bedeutungsstränge, die sich hier vereinen. Zum einen steckt das Wort „heil“ darin, was so viel wie ganz oder vollständig meint. Wenn etwas heilig ist, ist es also in sich ganz und vollkommen.

Zum zweiten weist das Wort „heilig“ auf einen göttlichen Ursprung hin. Jesus zum Beispiel wird als heilig angesehen, weil er „Gottes Sohn“ ist. Man könnte dies auch anders ausdrücken: Der Urgrund des Seins drückt sich unmittelbar in diesem Menschen aus.

 

Die Trennung zwischen dem Heiligen und dem Profanen

In der christlichen Tradition meiner Kindheit wurde das Heilige ins Jenseitige geschoben und angebetet. Das ist auch in gewissem Sinne folgerichtig, denn wenn etwas jenseitig ist, ist es für uns nicht erreichbar. Wir können dann nur daran glauben und es anbeten.

Doch damit nicht genug. Wenn Gott als jenseitige Kraft gesehen wird, dann entsteht automatisch eine Unterscheidung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits – zwischen den profanen, weltlichen Dingen und dem Heiligen, Göttlichen. Lange Zeit wurde in der Theologie die Erlösung mit dem Jenseitigen assoziiert, wohingegen das irdische Diesseits mit Sünde, Elend und Leid gleichgesetzt wurde.

 

Eine folgenschwere Verwechslung

In der Mystik und auch der Transpersonalen Psychologie wird eine ganz andere Sichtweise auf das Thema eingenommen. Das Heilige wird hier nicht als jenseitig gesehen. Im Gegenteil: Das Heilige – also die Dimension des unbedingten Seins – drückt sich in jeder gegenwärtigen Erscheinung – in jedem Geschöpf, in jedem Stein und in jedem Grashalm – unmittelbar aus. Aber, um das zu empfinden, müssen wir uns selbst in einen veränderten Bewusstseinszustand begeben.

Das bedeutet: Nicht das Heilige ist jenseitig, sondern unser Bewusstseinszustand ist „verändert“ und damit jenseits des normalen, alltäglichen Bewusstseinszustandes. In diesem Sinne ist die traditionelle Sichtweise, dass Gott und das Heilige jenseitig sind, eine schlichte Verwechslung.

 

Jenseits aller Gedanken, Gefühle und Vorstellungen gibt es ein Inneres Heiligtum, das wir nur selten betreten. Es ist der Wesensgrund der Seele, wo alle Anlagen und Fähigkeiten ihre Wurzeln haben und welches das wahre Zentrum unseres Seins ist…

Bede Griffiths

 

Weder heilig noch profan

Wenn wir das einmal erkannt haben, dann besteht die Trennung zwischen dem Profanen und dem Heiligen nur in unserem Geist, nicht in der Wirklichkeit. Oder anders gesagt: In Wirklichkeit gibt es nichts, was unheilig oder profan wäre. Alles, alles, alles – jede noch so kleine Ameise – ist heilig. Wer den Bewusstseinszustand wechseln und das in der Tiefe spüren kann, wird sich automatisch ganz anders verhalten. Denn wie bewegen wir uns in einer Welt, in der alles – jedes Geschöpf, jedes Blatt und jedes Staubkorn – heilig ist? Wie behandeln wir unsere Mitmenschen, wenn sie heilig sind? Und wie gehen wir dann mit uns selbst um?

Auf der anderen Seite ist die Vorstellung, dass wir immer alles als heilig sehen würden, doch auch ziemlich anstrengend und abgehoben. Nochmal zur Erinnerung: Die Dinge sind, wie sie sind. Sie sind weder heilig noch profan. Nur der Bewusstseinszustand, in dem wir uns befinden, lässt uns Dinge als heilig oder als gewöhnlich erfahren. Wenn wir die Fähigkeit entwickeln, Bewusstseinszustände zu wechseln, können wir zum Beispiel spüren, dass wir zutiefst heilig und doch gleichzeitig auch ganz normale schlichte Menschen sind. Dann können wir trotz tiefer Zustände von absolutem Sein weiterhin ein schlichtes Leben als Mensch führen. Wie wunderbar!

 

Wir sind Sternenstaub, nichtig und wichtig, winzig und groß, endlich und ewig, völlig banal und unfassbar mysteriös – die Magie des Lebens!

Rumi

 

ÜBUNG: Die Heiligkeit des Lebens

  • Schaffe zunächst Raum in dir. Atme mehrmals tief durch, strecke und dehne dich. Streife dabei alle Gedanken und den ganzen Alltag für einen Moment ab.

  • Dann nimm innerlich die Perspektive ein, dass jede Erscheinung in der Gegenwart heilig ist: Jedes Geräusch ist heilig. Jeder Atemzug und der ganze Körper sind heilig. Jeder Schritt und alles, was du siehst, ist heilig. Lass die Worte in dir klingen: „Alles, alles, alles ist heilig.“

  • Lass dir Zeit, dich auf diese Perspektive einzustimmen und verweile in diesem Zustand.

  • Bewege dich jetzt kontemplativ durch den Raum und betrachte die Dinge: Wo kannst du diese Perspektive besonders leicht empfinden? Wo erlebst du die stärkste Resonanz?

  • Nutze diese Resonanz und tauche dort tiefer in das Erleben ein…

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