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Achtsames Leben – Angst essen Seele auf

von Richard Stiegler

Angst essen Seele auf

Seit nun bereits zwei Jahren ist unsere Gesellschaft im Würgegriff der Pandemie und die Ansteckungszahlen steigen derzeit wieder steil an. Auch wenn sich erste Hoffnungsschimmer am Horizont abzeichnen, dass sich die Pandemie allmählich in eine Endemie verwandeln könnte, steht die Gesellschaft derzeit noch in allen Bereichen unter einem hohen Druck, dem die Menschen nun bereits seit vielen Monaten privat und beruflich ausgesetzt sind. Druck jedoch erzeugt Angst. Und „Angst essen Seele auf“, wie es Rainer Werner Fassbinder in seinem berühmten Filmtitel beschrieb. Tatsächlich wird die Seele durch nichts so sehr verdunkelt wie durch den Zangengriff der Angst. Der Druck nimmt zu und der Raum für die Seele wird immer enger. Es entsteht ein Tunnelblick.

 

Was Angst mit uns macht

Angst ist ungefähr das Gegenteil von Gelassenheit, Liebe, Mitgefühl, Weisheit und innerer Weite. Angst führt dazu, dass wir uns verschließen – ja, regelrecht abschotten – und den Zugang zu den natürlichen Potentialen unserer Seele verlieren. Wenn wir einen Moment von akuter Angst in Achtsamkeit studieren würden, würden wir bemerken, welch komplexe Wirkung die Angst in Körper und Seele hat. Der Körper zieht sich spontan durch eine muskuläre Kontraktion zusammen und verhärtet sich. Die Atmung wird flacher und schneller. Wir haben das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen. Die Poren verschließen sich und die körperliche Kontraktion bewirkt das Gefühl, dass auch unser innerer seelischer Raum enger wird.

Enge ist das Grundgefühl in der Angst. Die Gedanken werden chaotisch und überfluten uns und die Aufmerksamkeit ist in einer Hab-acht-Haltung. Alle Antennen sind ausgefahren und nach außen gerichtet. Eine achtsame Wahrnehmung von uns selbst ist hier kaum mehr möglich.

 

Atemlos und kopflos

Je stärker die Angst wird, desto kopfloser und atemloser verhalten wir uns. In der Panik nimmt die Schnelligkeit und die gefühlte Enge immer mehr zu, bis wir wie ein gehetztes Tier nur noch aus der Situation ausbrechen wollen oder in eine komplette Lähmung geraten. Es gibt hier keine Möglichkeit mehr, die Situation in Ruhe zu betrachten und uns selbst dabei zu spüren. Daher ist Panik ein innerer Vorgang, der uns seelisch vollkommen abtrennt. Weder haben wir die Möglichkeit, differenziert wahrzunehmen, noch steht uns in der Panik unser natürliches seelisches und geistiges Potenzial zur Verfügung. Sogar unser Denken wird durch Angst blockiert, wie wir von Blackouts in Prüfungssituationen wissen. Daher tun wir in der Regel gut daran, nicht zu handeln, wenn uns Angst oder Panik befällt, denn wir haben in diesen Momenten keinen Zugang zu unserer natürlichen Intelligenz und zu den Ressourcen unserer Seele.

 

Chronische Formen der Angst

Akute Situationen von starker Angst oder Panik kommen Gott sei Dank selten vor, aber abgeschwächte, chronische Formen der Angst kann man sehr häufig beobachten. Leider werden diese oft nicht erkannt, da sie unterschwellig ablaufen. Wie chronische Muskelverspannungen, die so selbstverständlich geworden sind, dass sie sich normal anfühlen, können auch chronische Angstzustände und ihre Kompensationsmuster zu einem alltäglichen Lebensgefühl werden, das wir nicht mehr hinterfragen und kaum mehr wahrnehmen.

Doch wenn wir uns die Zeit nehmen, genauer hinzuspüren, würden wir auch die Symptome eines chronischen Angstzustandes an der unterschwelligen Enge und Starre, am inneren Getrieben-Sein und an der abnehmenden Fähigkeit, uns innerlich differenziert zu spüren, erkennen. Wie oft fühlen wir uns unter Druck? Wie viel Stress gibt es in unserem Alltag? Wenn wir die Symptome von Stress unter der Lupe der Achtsamkeit betrachten, werden wir feststellen, dass sie identisch mit den Symptomen der Angst sind. Das, was wir Stress nennen, ist eigentlich eine unterschwellige Angstreaktion. Doch dabei bleibt es nicht. Wenn Stress und Angst unterschwellig unser Lebensgefühl bestimmen, dann wird auch unser äußeres Leben tendenziell ein Ausdruck von Enge und Starrheit sein. Wie viel ideologische Fixiertheit können wir derzeit in Diskussionen (auf allen Seiten) beobachten?

 

Die Angst umarmen

Da die Angst das Großhirn und damit das Denken blockiert, kann man jemanden, der unter Druck steht und den die Angst besetzt, nicht mit vernünftigen Argumenten erreichen. Man kann sich nur auf dessen Angst beziehen, sie annehmen und dadurch einen sicheren Raum schaffen, in dem sich die Seele beruhigen kann. Erst wenn innerlich wieder das Gefühl von Sicherheit eingekehrt ist, kann sich dessen Seele natürlich entfalten. Erst dann entsteht die Freiheit zu einer offenen, gelassenen und mitfühlenden Lebensweise. Fühlt sich ein Mensch innerlich sicher, kann er unter dem harten Schutzpanzer zum Vorschein kommen und sich dabei regelrecht zu einem anderen Menschen verwandeln.

Was für andere gilt, hat natürlich auch für uns selbst Bedeutung. Sobald wir erkennen, dass uns Symptome wie Getrieben-Sein, Stress, Enge oder Härte gegenüber anderen oder uns selbst besetzen, ist nicht die Zeit, Entscheidungen zu treffen oder in irgendeiner Form zu handeln. Vielmehr besteht dann die Aufgabe darin, uns um die Angst zu kümmern und sie zu umarmen, bis wir uns wieder innerlich entspannen. Wie ein kleines Kind, das nach einem Sturz einen Schrecken hat und auf dem Schoß der Mutter weint und dadurch wieder in die Ruhe und die innere Sicherheit zurückfindet, so brauchen auch wir als Erwachsene den Raum einer zärtlichen und verständnisvollen inneren Umarmung, wenn wir Angst oder Druck empfinden. Manchmal können wir uns eine solche zärtliche Umarmung selbst zukommen lassen. Es kann aber auch notwendig sein, dass wir einen nahen Menschen darum bitten, uns einen liebevollen Raum zu schenken, damit wir uns in unserem Stress entlasten können und unsere Mitte wiederfinden. Wir werden überrascht sein, wie sehr die Welt in einem anderen Licht erstrahlt, wenn die innere Welle von Angst und Stress genug Raum bekommen hat, um sich wieder zu beruhigen, und wir in eine tiefe Gelassenheit zurückgefunden haben.

 

ÜBUNG: Angst und Stress umarmen

  • Reflektiere über die Fragen:
    Was setzt mich unter Druck? In welchen Situationen taucht Stress auf? Was macht mir Angst? Wo spanne ich an oder wann werde ich innerlich enger?
  • Erforsche jetzt, was diese Situationen innerlich bewirken:
    Versetze dich in diese Situationen hinein und spüre, was dabei im Körper spontan geschieht. Gib dem einen ganzkörperlichen Ausdruck. In welche innere Welt kommst du, wenn du längere Zeit dieser Angst oder diesem Stress ausgesetzt bist? Lass dazu ein inneres Bild auftauchen und spüre, welches Grundgefühl dabei entsteht.
  • Den Angstkörper einhüllen:
    Dann stell dir so konkret wie möglich vor, dass dich eine freundliche, sanfte und verständnisvolle Präsenz einhüllt. Vielleicht hält dich ein Mensch liebevoll im Arm oder hört dir aufmerksam zu. Vielleicht hüllt dich ein sicheres Feld von Sanftheit ein, in dem du geborgen bist. Visualisiere so konkret wie möglich dieses Energiefeld, tauche hinein und spüre, wie sich die Kontraktionen in Körper und Seele lösen.
  • Loslassen und sich öffnen:
    Lass dir Zeit dabei und spüre, was sich ausbreitet. Was immer sich ausbreitet, tauche noch tiefer hinein. Überlass dich diesen Empfindungen und Gefühlen, bis du die sich ausbreitende Entspannung in deiner Ganzheit fühlen kannst und bis sich alle Zellen wieder öffnen.
  • Ein neuer Blick aufs Leben:
    Wie schaust du von hier aus auf das, was dich anspannen lässt oder dir Angst macht? Wie bedeutsam ist es eigentlich in deinem Leben? Was erscheint jetzt im Zustand der Entspannung bedeutsam und wie kannst du es nähren?